Boris Johnson hat es eilig.

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Die entscheidende Brexit-Woche beginnt – und die britische Regierung versucht gleich zu ihrem Start Europa unter Druck zu setzen. Bis Montagabend soll laut Premier Boris Johnson klar sein, ob man sich rechtzeitig vor dem EU-Gipfel am Donnerstag auf einen neuen Austrittsvertrag einigen könne. Darüber wollte er am Telefon nicht nur mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, sondern auch mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel sprechen. Die ebenfalls für Montag geplante Regierungserklärung ("Queen's Speech") steht völlig im Schatten dieser Entwicklungen.

ORF

Offenbar setzt die Downing Street alles daran, die Verlängerung der britischen Mitgliedschaft über den geplanten Brexit-Termin Ende des Monats hinaus noch zu verhindern. "Wir sollten das jetzt gemeinsam hinkriegen", lautet dafür Johnsons Argument gegenüber der EU-Prominenz – ein vor allem auf Macron zugeschnittener Slogan. Der Franzose hatte sich im Vorfeld der Verlängerung im April ungeduldig präsentiert.

Allerdings spricht Johnson dem Vernehmen nach von einer Alternative: entweder ein verbesserter Vertrag oder "eine freundliche Version des No Deal". Mit dem Ausdruck "No Deal" beschönigen die Brexiteers die chaotischen Verhältnisse, die ein ungeregelter Austritt zur Folge hätte.

Wiederbelebte Gespräche

Indem er die Verbündeten auf eine "freundliche Version" verpflichtet, versucht Johnson die Verantwortung für ein Scheitern der Verhandlungen von sich abzuwälzen. Dem hatten sich vergangene Woche aber wichtige EU-Politiker wie Irlands Premier Leo Varadkar entgegengestellt.

Varadkars Treffen mit Johnson nahe Liverpool hatte am Donnerstag den bereits totgeglaubten Verhandlungen nochmals Atem eingehaucht. Der Haltung des Iren kommt vorrangige Bedeutung zu. Dabei geht es stets um die zukünftige Stellung von Nordirland, für das Dublin seit dem Karfreitagsabkommen 1998 Mitverantwortung trägt. Um die innerirische Grenze offen zu halten und damit den Frieden auf der Insel zu sichern, will Varadkar die britische Provinz in der Zollunion und wichtigen Teilen des Binnenmarkts halten. Johnson und die Brexiteers streben hingegen den Austritt des gesamten Vereinigten Königreichs aus der Zollunion an, weil sie sich davon mehr Freiheit für künftige Handelsverträge, etwa mit den USA, versprechen.

Die parlamentarische Opposition hat nicht nur den No Deal gesetzlich ausgeschlossen; viele Abgeordnete stehen auch einer neuen Übereinkunft skeptisch gegenüber. Man dürfe nicht vergessen, schrieb Labour-Politiker Hillary Benn auf Twitter, dass Johnson wie einst seine Vorgängerin Theresa May einen harten Brexit anstrebe, also die Abkehr des Landes von Binnenmarkt und Zollunion.

Benn selbst will mithilfe eines zweiten Referendums in der EU bleiben. Diese Idee war im Frühjahr im Unterhaus knapp gescheitert. Diesmal könnte es eine Mehrheit geben, falls Johnson ohne Deal aus Brüssel zurückkehrt, glaubt der schottische Tory-Abgeordnete Paul Masterton.

Allianz für neue Abstimmung

Eine überparteiliche Allianz bastelt zudem noch immer an Plänen für einen Sturz des Premiers und die Einsetzung einer Übergangsregierung. Als Kandidaten für deren Führung gelten die Veteranen Kenneth Clarke (Tories) sowie Margaret Beckett und Harriet Harman (beide Labour).

Die fragile Lage der Downing Street spiegelte sich in den Londoner Medien wider. "Boris kann man vertrauen", appellierte Parlamentsminister Jacob Rees-Mogg im Sunday Telegraph an seine Brexiteer-Gesinnungsfreunde. Er fordert, dem bisher rabiaten Vormann der Exit-Kampagne einen Kompromiss zu ermöglichen.

Mit der Regierungserklärung beginnt gewöhnlich eine neue Sitzungsperiode des Parlaments. Die sogenannte Queen's Speech – Montag, 12 Uhr MESZ – wird von der 93-jährigen Monarchin vorgetragen. Inhaltlich dürfte die Rede 22 neue Vorhaben der Regierung enthalten. Dazu gehört das Ende der Personenfreizügigkeit, wie von der Brexit Party gefordert, sowie eine schärfere Kontrolle der unpopulären privaten Eisenbahnbetreiber, was Labour seit Jahren anregt.

Kaum eines dieser Gesetze hat Chancen auf Umsetzung. Zum einen steht Johnson einer Minderheitsregierung vor; zum anderen strebt der Premier ohnehin so bald wie möglich, noch heuer, eine Neuwahl an, von der er sich ein klares Mandat erhofft. Den Umfragen zufolge ist dieser Erfolg möglich, aber keineswegs gesichert. (Sebastian Borger aus London, 14.10.2019)