Schon 1998 hat der Historiker und Publizist Walter Laqueur seine Bedenken zur Terrorbekämpfung veröffentlicht. Berühmt durch seine Studien zur Geschichte Deutschlands und des Zionismus, ist er auch Vorsitzender des "Center for Strategic and International Studies" in Washington. Rita Schwarzer sprach mit ihm.

Standard: Wie ist es möglich, dass eine bis auf die Zähne bewaffnete Großmacht wie die USA von ein paar Kamikaze-Terroristen dermaßen im Zentrum getroffen werden kann?
Walter Laqueur: Je entwickelter ein Land ist, technologisch usw., desto gefährdeter ist es solchen Angriffen gegenüber. Bis jetzt hat Amerika Glück gehabt. Aber ich fürchte, wir sind am Anfang einer neuen Epoche. Dieser Angriff wurde ja noch quasi mit altmodischen Mitteln durchgeführt.

STANDARD: Sie meinen die Passagierflugzeuge, die als "Bomben" missbraucht wurden?
Laqueur: Ja, das ist Low Technology. High Technology ist Cyber-War, atomare, bakteriologische, biologische, chemische Waffen. Die wurden bislang noch gar nicht eingesetzt. - Natürlich haben weder ich noch sonst jemand erwartet, dass so etwas passiert. Aber dass wir mit solchen Gefahren konfrontiert sind und dass es leider bei Regierungen und Bevölkerungen kein Bewusstsein dafür gab, das war mir klar. Ich habe seit Jahren darüber geschrieben.

STANDARD: Ist vielleicht mit ein Grund für das Gelingen dieser Attacke, dass die USA ihre Feinde stets außerhalb ihrer Grenzen wähnten? Man denke nur an die mangelnden Kontrollen bei Inlandflügen.
Laqueur: Das spielt sicher auch eine Rolle. Aber das allein erklärt es natürlich nicht. In keinem terroristischen Angriff sind bisher mehr als vier-, fünfhundert Menschen umgekommen. Jetzt aber, durch die technologische Entwicklung einerseits und das Anwachsen des religiösen und nationalen Fanatismus andererseits, besteht plötzlich die Möglichkeit, unvergleichlich größeren Schaden anzurichten als je zuvor.

STANDARD: Hat auch der US-Geheimdienst versagt?
Laqueur: Der hat völlig versagt - wobei: Es ist nicht einfach. Wenn ein einzelner Mensch beschließt, ein Attentat vorzubereiten wie das in Oklahoma, kann kein Geheimdienst der Welt etwas dagegen tun. Aber in diesem Falle hier, vermute ich, wussten etwa hundert Menschen davon, wenn nicht sogar mehr. Auch der US-Geheimdienst hätte etwas wissen müssen. Leider ist er viel besser im Abhören und Observieren als im Infiltrieren, im Bereich Human Intelligence. Es fehlt an Leuten, die die Länder kennen, die Sprachen sprechen.

STANDARD: Glauben Sie, diese Terrorakte hätten überhaupt vermieden werden können?
Laqueur: Niemand kann garantieren, dass so etwas nicht passiert. Aber das Risiko lässt sich bedeutend reduzieren. Und hier kommt etwas anderes hinzu: Keine kleine Gruppe von afghanischen oder saudischen Kameltreibern irgendwo in der Wüste vermag so etwas vorzubereiten. Dazu braucht es Geld, Pässe, Waffen, logistische Unterstützung usw. Ohne den Support eines Staatsapparates sind solche Angriffe höchst unwahrscheinlich.

Man sollte also nicht alle Energie darauf verwenden, Osama Bin Laden zu finden. Der ist im Grunde gar nicht so wichtig. Man müsste die Regierung oder die Regierungen aufspüren, die ihn unterstützt haben und diese bestrafen oder ausschalten. - Nicht aus Rachsucht, sondern um noch Schlimmeres in Zukunft zu verhindern. Sonst kommt es beim nächsten oder übernächste Mal zum Einsatz von Massenvernichtungsmitteln.

STANDARD: Ist für Sie eigentlich ganz klar, wer hinter den Angriffen steht?
Laqueur: Wir alle wissen, es gibt fünf, sechs Regierungen, die das in der Vergangenheit getan haben: Irak, Iran, Sudan, Syrien, Nordkorea, Libyen. - Wer immer dahintersteckt, sollte möglichst ausgeschaltet werden. Damit die Verantwortlichen sich das Risiko künftig zehnmal überlegen.

STANDARD: Sie reden von "strafen" und "ausschalten": Kann man dieser neuen Art von Terror mit konventionellen Mitteln überhaupt beikommen?
Laqueur: Wahrscheinlich nicht, nein.

STANDARD: Wie dann?
Laqueur: Neue Gefahren fordern neue Antworten. Je größer der Schaden, desto eher werden die Menschen bereit sein, auch Maßnahmen ihrer Regierung zu akzeptieren, die sie bisher ablehnten oder gar verabscheuten: Kontrollen und Überwachungen zum Beispiel. Leider. Wenn die persönliche Freiheit eines Einzelnen oder einer Gruppe missbraucht werden kann, um Massenvernichtungsmittel herzustellen oder anzuwenden, muss man die persönliche Freiheit des Individuums einschränken. Wahrscheinlich gibt es keine andere Wahl.

Allerdings - und auch das habe ich in meinem Buch Die globale Bedrohung (Propyläen, 1998) geschrieben: Diese Einsicht wird erst nach einem großen Unglück kommen. Ich bin nicht sicher, ob das, was wir jetzt gesehen haben, bereits dieses große Unglück ist.

STANDARD: Sie zeichnen ein äußerst düsteres Bild.
Laqueur: Ich meine nicht, dass alles verloren ist. Aber die Menschen, die dachten, das 21. Jahrhundert werde ein friedfertiges sein, haben sich wahrscheinlich getäuscht.

STANDARD: Gäbe es nicht auf internationaler Ebene eine Reihe von Bekämpfungsmaßnahmen: etwa die Geldströme terroristischer Netzwerke aufspüren und abschnüren?
Laqueur: Aber natürlich! Man müsste in Banken scharfe Kontrollen einführen, das Bankgeheimnis einschränken, die Erkenntnisse austauschen. Aber ich bin etwas skeptisch, was die internationale Kooperation der Staaten betrifft. Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass einige Länder, zum Beispiel Frankreich, nicht voll mitziehen. Aber vielleicht wird's ja nun etwas besser.

STANDARD: Gibt es denn auch effektvolle, viel versprechende präventive Antiterrormaßnahmen, um der Gewalt den Nährboden zu entziehen?
Laqueur: Ja, sicher. Die Logik des Terrors ist nicht die Logik des normalen Menschen. Das selbe trifft auf den Antiterror zu. Die amerikanische Regierung war hart in zwei Fällen: Es gab einen Angriff auf den libyschen Staatschef Muammar Gaddafi und einen zweiten im Sudan, wo man dachte, eine Giftgasfabrik zu vernichten. In Wirklichkeit aber hat man eine pharmazeutische Fabrik getroffen. Im Falle von Gaddafi war's nicht einmal klar, ob er Schuld hatte an dem, wofür man ihn bestrafte.

Es war also irreführend, was die Amerikaner damals machten, aber: erfolgreich. Denn seit diesem relativ kleinen Angriff hat man von Gaddafi als Terroristen nichts mehr gehört. Auch der Sudan hat alle Terroristen aus seinem Gebiet ausgewiesen. Die Gefahr ist, dass man nichts tut. S TANDARD: Heißt das: Militärisch zuschlagen, auch wenn es die Leben vieler unschuldiger Opfer kosten sollte? Laqueur: Nein. Ich will nur sagen: Es gibt eine Reihe von Regierungen, die in den internationalen Terror involviert waren. Ob man im konkreten Fall die richtige oder die falsche trifft, spielt keine Rolle. Einen Effekt wird es haben. (DER STANDARD, Printausgabe vom 17. September 2001)