Chris Moriarty: "Lichtspur"
Broschiert, 701 Seiten, € 9,20, Heyne 2008.
"Spin State" heißt der 2003 erschienene Debütroman der US-Amerikanerin Chris Moriarty im Original - und überlässt es der Interpretation der LeserInnen, ob sich der Titel auf Quanten-Spins bezieht, da sich im Roman die menschliche Zivilisation mithilfe von Quantentechnologie über einige Sternensysteme ausgebreitet hat. Oder ob es eher - im Sinne von spin doctors - um die Manipulation von Meinungen geht: Denn die "Lichtspur" wird nicht nur von einer Reihe unterschiedlichster Manipulatoren, die ihre Pläne und ihr Mehrwissen geschickt verbergen, verdunkelt - Erinnerungen selbst können verändert werden. Hat ein Mensch einen überlichtschnellen Quantentransport bzw. Bose-Einstein-Sprung absolviert, muss seine dabei zumindest teilweise verloren gehende Erinnerung aus Backups rekonstruiert werden. Und Passagen, die unter behördliche Zensur fallen, können gestrichen werden, wie die Hauptfigur Catherine Li am eigenen Leib erfährt.
Moriarty ballert einem gleich zu Beginn eine vor den Latz und beschreibt die Vorbereitung einer vernetzten Einsatzbesprechung wie folgt: Ein regelrechtes Sperrfeuer von Statusmeldungen blitzte in Lis Augenwinkeln auf und unterrichtete sie darüber, dass die Relaisstation gerade eine Verschränkung aufbaute, einen Spinschaum-Kanal einrichtete, Spincastings durchführte, Spinbits mit E-bits abglich, eine Sharifi-Transformation einleitete, nicht-triviale Spin-Abweichungen korrigierte und den replizierten Datenstrom an jene fernen Segmente von Cohens Netzwerk weiterleitete, die diese Einsatzbesprechung überwachten. - Das ist aber weniger ein Schreckschuss als eine Orientierungshilfe, um sich klarzumachen, dass die BürgerInnen von Moriartys Zukunftswelt mittels Körperimplantaten nahezu permanent online sind. Cyberpunk war allerdings gestern, denn hier hat die Software längst aus dem virtuellen Raum übergegriffen und die Gestaltung der realen (...) Welt übernommen: Virufaktur-Bodenkrume, Von-Neumann-Sonden und Viruglobuli terraformieren die Kolonialplaneten, und nicht ein einziges Mal bewegen sich die ProtagonistInnen in einer Umgebung, die wir als natürlich empfinden würden (selbst die toughste Großstadpflanze wird nach der Lektüre von "Lichtspur" das Bedürfnis verspüren, raus aufs Land zu radeln und sich im Gras zu wälzen ...).
Hier finden wir uns mitten im Transhumanismus wieder, wo die Grenzen, was ein Mensch sei und was nicht, mehr und mehr verschwimmen: Künstliche Intelligenzen genießen Bürgerrechte und betreiben handfeste Politik - etwa Lis ebenso dandyhafter wie dubioser Kompagnon Cohen, der sogar schon mehrere Ehen geführt hat. Körperlicher Kontakt ist ihm - wie anderen KIs, aber auch Menschen - möglich, wenn er im Overlay-Modus einen Menschen als lebendes Interface benutzt. Weniger Rechte haben da schon Genkonstrukte (wie auch Li eines ist: ein Geheimnis, das sie ängstlich wahrt), also Menschen, die zum Teil oder ganz aus patentiertem Zellmaterial gezüchtet wurden. Die Gründe für deren Diskriminierung sind vor allem politische, denn einige Genkonstrukte haben sich aus dem Raum der UN-Verwaltung gelöst und die Syndikate gebildet: Nicht nur ein konkurrierendes Staatengebilde, sondern möglicherweise auch eine neue Zivilisation, die Ansätze zu einer Kollektivintelligenz zeigt. - All das mag manchen erschreckend erscheinen, aber auch unsere Normalität ist schließlich eine relative: Li beispielsweise erschaudert beim Anblick eines Ledersessels und findet den Gedanken, ein Möbelstück mit Säugetierhaut zu überziehen, "einschüchternd dekadent".
Die in "Lichtspur" geschilderten Rahmenbedingungen sind im Grunde interessanter als die eigentliche Handlung: UN-Friedenssoldatin Li wird zur Klärung eines Mordfalls in "Mission Impossible"-artiger Manier auf den Bergwerksplaneten geschickt, auf dem die Bose-Einstein-Kondensate abgebaut werden, ohne die die gesamte menschliche Technik perdü wäre. Gewonnen werden sie übrigens von Menschen unter unmenschlichen Bedingungen: Kinderarbeit ist zugelassen, Gewerkschaften nicht und die Bergleute müssen ihre Atemluft kaufen - aber schließlich hat sich die Inhabergesellschaft von Comptons Planet auch gegen die Unterzeichnung der Menschrechtskonvention entschieden, es lebe die New Economy! In dieser Hölle, die kaum jemanden älter als 40 werden lässt, stellt Li fest, dass so gut wie jeder, der ihr begegnet, verborgene Agenda fährt - was die Handlung bisweilen etwas unübersichtlich (und auch lang) macht. - Sehr gut gelungen ist Moriarty hingegen das Spiel mit persönlichen und sexuellen Identitäten, was "Spin State" auch eine Reihe von Preisnominierungen eingebracht hat; der Folgeroman "Spin Control" wird im Februar als "Lichtjagd" auf Deutsch erscheinen.