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Ob Verena Roßbacher wirklich weiß, was ein "Nudelaug" ist, darf man bezweifeln. Als gebürtige Bludenzerin mit Zürcher und Leipziger Vergangenheit muss sie das auch nicht. Eines der zahlreichen Wiener Originale in ihrem Roman, ein Wirt mit dem klingenden Namen Tankrad Neugröschl, beliebt die Angehörigen seines Küchenpersonals mit diesem Schimpfwort zu bedenken.

Neugröschl, der zu der gar nicht raren Spezies jener Wirte gehört, die die Anwesenheit eines zahlendes Gastes als fundamentale Betriebsstörung empfinden, erklärt sein Café gelegentlich auch dann für geschlossen, wenn die Tür offen ist. Nichtsdestoweniger kreuzen sich in dem Lokal alle Bahnen und Laufbahnen dieser Geschichte. Gleich zu Beginn beschließt dort der hochstaplerische Erfinder Roth, sich fortan Grün zu nennen, weil er eine ihm anvertraute Stradivari mittels einer ehrgeizigen Pilzbehandlung ruiniert hat. Seine Tochter Klara, die Schlüsselfigur des Romans, heuert im Neugröschl als Aushilfskellnerin an. Männer umschwärmen sie wie die redensartlichen Motten das Licht. Sind sie die Drachen, nach denen laut Titel verlangt wird - oder ist vielleicht Klara das Ungeheuer? Dafür spräche der Umstand, dass die junge Dame auf ihre psychisch ohnehin wackeligen Liebhaber eine fatale Wirkung ausübt.

Vielleicht ist aber auch Wien einfach die Stadt, wo der Wahnsinn blüht? Der Cellist David Stanjic verewigt Klaras Haare in Eiswürfeln, verlernt das Notenlesen und bohrt, nach Grün'schem Rezept, Löcher in sein Instrument. Der Barpianist Konrad Wurlich isst nur noch Käse und geht auf sein Klavier mit dem Messer los. Der ältliche Privatgelehrte Alexander Lenau, der meinte, gegen Nymphenmacht immun zu sein, schenkt der Geliebten versteinerten Löwenkot und stürzt sich, als sie ihm den Laufpass gibt, in den herbstlichen Fluss, aber nicht um zu ertrinken, sondern um zu schwimmen. Am Schluss findet Klara ihren Meister in einem Maestro; als Sitzengelassene macht sie keine gute Figur, schreibt ihm redundante Bettelbriefe.

Verena Roßbachers Erstling ist als Talentprobe durchaus beachtlich. Zum Beispiel in der Geschichte des allerersten der von unserer Kellnerin abservierten Lover, Valentin Kron, eines Gärtners und Vegetariers, der Klaras Vater ein Dorn im Auge ist. Wie die Drachenfrau des liebenswerten Sonderlings allmählich überdrüssig wird, wie sie seine eingeweckten Maulwürfe nicht mehr erträgt und seinen Geruch, wie ihre Nase überhaupt immer empfindlicher wird und ihr ihrer beider Luftmatratze plötzlich viel zu klein vorkommt, das erzählt Roßbacher genau und berührend.

Verlangen nach Drachen erinnert an Jörg Mauthes Wien-Roman "Die Vielgeliebte", nicht nur im dick aufgetragenen Lokalkolorit samt menschlichem Kuriositätenkabinett, sondern auch in seinem Kreisen um das Rätsel Weib: In der Vielgeliebten sieht ein jeder, was er sehen will. Unverkennbar, wenn auch nicht ausdrücklich, bezieht sich die Autorin auf Heimito von Doderer, dem sie in Interviews als ihrem Lieblingsdichter huldigt. Seine Abhandlung "Die Wiederkehr der Drachen" wird als Referenztext ungeniert geplündert. Offen liegt auch der Bezug zu Torbergs Anekdotenkunstwerk "Die Tante Jolesch", denn Roßbacher lässt ihren Herrn Neugröschl wie Torbergs gleichnamiges jüdisches Vorbild tatsächlich einen Gast aus dem Lokal werfen, der bestreitet, dass Zwetschkenröster der Gattung der Kompotte zuzurechnen sei.

Die leicht verfremdete Anekdote zeigt denn auch, woran es dem Buch mangelt: nicht nur an Originalität, sondern an Esprit. Man kann (und soll - schließlich handelt es sich um ein Debüt!) der Autorin Sinn für Komik loben, ihre Erzählfreude und, sieht man von ein paar Manieriertheiten ab, ihre stilistische Treffsicherheit. Die Rezensentin gesteht jedoch, von der dauermunteren Plauderseligkeit sehr bald genervt gewesen zu sein. Eine Darstellung, die auf biedere Breite setzt, statt auf Pointen, treibt jedem Witz den Witz aus.

Wo, fragt man sich angesichts des freudig zelebrierten Absonderlichen, liegt hier die künstlerische Notwendigkeit? Ob gymnasiales Bildungsgut oder Rarität, ob die Geschichte von Catos "ceterum censeo" oder der Erdbeersorte Belzsche Bulpe, alles wird ausschweifend erzählt. Mitunter scheint der Zweck der Dialoge einzig darin zu bestehen, ausgefallene Wörter zu verkosten. Einen "Possenreißer" schimpft Klara den ewig dozierenden Hexenmeister Lenau, und der Vorwurf fällt auf die Autorin zurück. Diese Erzählstimme hört sich selber allzu gern zu, was da wie gut geölt abschnurrt, verbirgt nur schlecht den Leerlauf des Unerheblichen. 

Die Vernarrtheit in die Exotik des Skurrilen rächt sich in der Sprache, die "echt" sein will und Falsches nicht erkennt: Mitten in die kakanische Kaffeehauskonversation über "Hendln" und "Eierspeis" platzt der "Blödmann" , der fragt, wo die Kochgehilfen "abgeblieben" sind. Als würde man die Melodie eines Wiener Werkelmannes über Synthesizer hören. Die "azurblaue PlastikTÜTE", die von der ersten Szene an durchs Geschehen weht, ist, so gesehen, verräterisch. Der selige Torberg hätte als rot-weiß-roter Sprachpurist mit Frau Roßbacher keinen noch so kleinen Schwarzen getrunken - obwohl, wenn man ihr Foto anschaut: er hätte doch.

Ob wir übrigens die ethnologische Wissbegier der Autorin nicht doch unterschätzt haben? Für alle Nicht-Wiener: "Nudelaug, das: Harnröhrenöffnung des männlichen Glieds (auch: Nudel)". (Daniela Strigl, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 11./12.04.2009)