Die sechs Zentimeter hohe Venus aus der Grotte Hohle Fels ist mit ihren 35.000 Jahren um 10.000 Jahre älter als die Venus von Willendorf - und ähnlich üppig gebaut.

Foto: Nicholas Conard, Universität Tübingen

London/Tübingen - Der 9. September 2008 wird zweifellos in die Geschichte der Archäologie eingehen. Ziemlich exakt 100 Jahre nach dem Fund der Venus von Willendorf in der Wachau machte ein Grabungsteam der Universität Tübingen eine ähnlich aufregende Entdeckung: Im lehmigen Bodensediment der Grotte Hohle Fels - gut 50 Kilometer südöstlich von Stuttgart in unmittelbarer Nähe des schwäbischen Städtchens Blaubeuren - fanden die Experten den Hauptteil eines weiblichen Miniatur-Torsos aus Mammut-Elfenbein.

Am Vortag war bereits etwa 20 Meter vom Höhleneingang entfernt ein dazu passendes Fragment geborgen worden, vier weitere Bruchstücke folgten in den nächsten Tagen. Zusammengesetzt bilden die Teile eine seltsame Statuette von geradezu grotesk ausgeprägter Weiblichkeit. Das Team taufte sie "Venus von Hohle Fels". Eine detaillierte Beschreibung des nur knapp sechs Zentimeter langen und 33,3 Gramm wiegenden Fundes erscheint in der Fachzeitschrift "Nature" (Bd. 459, S. 248).

Prähistorische Erregung

Die Entdeckung und die Dame selbst werden die Welt der Wissenschaft gehörig in Wallung bringen. Brüste, Bauch, Oberschenkel und Vulva sind extrem groß dargestellt, der Kopf fehlt dagegen. An seiner Stelle befindet sich ein fein ausgearbeiteter Ring. Die Figur wurde demnach wohl als Anhänger getragen.

Sie lag in Schichten, die nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen und Radiokarbon-Datierungen dem Aurignacien, der ältesten Kulturstufe des Jungpaläolithikums, zuzuordnen sind. Die Venus von Hohle Fels wäre somit circa 35.000 Jahre alt - bedeutend betagter also als die berühmte, "nur" 25.000 Lenze zählende Venus von Willendorf, und älter auch als die vor schätzungsweise 32.000 Jahren entstandene "Fanny vom Galgenberg" aus der Gegend um Krems an der Donau. Wahrscheinlich ist die neuentdeckte Ur-Schwäbin aus Elfenbein sogar die älteste bislang bekannte Darstellung eines Menschen überhaupt.

Der Hohle-Fels-Fund betont einmal mehr die Bedeutung des Schwäbischen Juras als Zentrum steinzeitlicher Kultur. Auch in anderen Höhlen in der Umgebung von Blaubeuren wurden bereits Statuetten ausgegraben, sie stellen Tiere oder sogenannte Therianthropen - Mischwesen aus Mensch und Raubkatze - dar (vgl. u. a. "Nature", Bd. 426, S. 830). Prähistorische Flöten aus Vogelknochen bzw. Elfenbein und stilisierte Penisse wurden ebenfalls entdeckt.

Die meisten Experten gehen davon aus, dass all diese Gegenstände von den ersten "modernen Menschen" (Homo sapiens), die vor rund 46.000 Jahren mit der Besiedlung Europas begannen, hergestellt wurden. Allerdings kann auch der Neandertaler, gewissermaßen ein Ureinwohner unseres Kontinents, als potenzieller Urheber nicht ausgeschlossen werden.

Die üppigen weiblichen Formen und die Verzierungen der Venus von Hohle Fels werfen für die Fachleute viele Fragen auf. "Es steckt eine Menge Information in dem Stück, aber wir müssen diese erst mal entziffern", betont der Tübinger Archäologe Nicholas Conard im Gespräch mit dem STANDARD.

Die österreichische Prähistorikerin Walpurga Antl-Weiser wiederum, die "Hüterin" der Venus von Willendorf im Naturhistorischen Museum Wien, verweist angesichts des Sensationsfundes darauf, dass man aus der Zeit vor 35.000 Jahren bisher nur geschlechtsneutrale Darstellungen im Halbrelief gekannt habe - wie eben auch die Fanny vom Galgenberg.

Genderspezifische Deutungen

Grabungsleiter und Autor Nicholas Conard hat die Statuette übrigens vorab etlichen Kolleginnen und Kollegen gezeigt. Deren Reaktionen fielen je nach Geschlecht unterschiedlich aus. Forscher sahen in ihr eher ein urzeitliches Sexobjekt, Wissenschafterinnen dagegen konnten sich die Figur als Amulett und Symbol weiblicher Kraft vorstellen.

Powerfrau oder prähistorischer Pornostar also? Vorerst dürfte die schwäbische Venus wohl als Projektionsfläche unserer eigenen Vorstellungen dienen. Was sie aber für ihren Schöpfer bzw. ihre Schöpferin bedeutete, erfahren wir vermutlich nie. (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Printausgabe, 14. 5. 2009)