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Bei Menschen mit dem Klinefelter-Syndrom liegt eine Chromosomenfehlverteilung vor

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Seit 2003 bietet die Österreichische Klinefelter und Trisomie-X Syndrom Gruppe Betroffenen Hilfestellung an

Foto: Österreichische Klinefelter und Trisomie-X Syndrom Gruppe

Sie ist eine seltene Krankheit und trotzdem die häufigste chromosonale Erkrankung bei Buben und Männern: das Klinefelter-Sydrom. Der amerikanische Arzt Harry F. Klinefelter beschrieb im Jahr 1942 erstmals in einem Fachaufsatz jene Merkmale, die seither unter dem Begriff Klinefelter-Syndrom subsumiert werden. Er beobachtete bei Männern Brustentwicklung, verkleinerte Hoden mit verminderter Spermienproduktion und Hochwuchs. Die genaue Ursache des Syndroms - ein zusätzliches X-Chromosom - wurde erst mehr als ein Jahrzehnt später entdeckt. "In Österreich sind rund 14.000 Buben und Männer betroffen, die Dunkelziffer ist aber sehr hoch", erklärt Helmut Kronewitter, Gründer und Leiter der Klinefelter-Selbsthilfegruppe Österreich.

47, XXY

Der Mensch hat 46 Chromosome: 22 Autosomenpaare und einem Paar Geschlechtschromosome. Die Geschlechtschromosome bestehen beim Mann aus einem XY und bei der Frau aus XX. Männer weisen daher einen Chromosomensatz von 46,XY, Frauen von 46, XX auf. Männer mit klassischem Klinefelter Syndrom haben mindestens ein zusätzliches X-Chromosom, ihr Karyotyp lautet daher 47, XXY.  Rund jedes 500. bis jedes 1.000 männliche Neugeborene wird mit dem Syndrom geboren. "Wie manchmal fälschlicherweise angenommen, bedeutet dies jedoch nicht, dass die Betroffenen beide Geschlechtsmerkmale in sich tragen, also intersexuell sind. Ihre anatomische wie emotionale Entwicklung ist rein männlich", betont die Deutsche Klinefelter-Syndrom Vereinigung.

Fragiles oder stabiles X?

Die Über- oder Unterzahl von Chromosomen, numerische Chromosomenanomalien oder Chromosomenaberrationen genannt, sind angeboren aber in der Regel nicht vererbt. Die meisten numerischen Anomalien gehen auf Neumutationen zurück. „Die numerische Aberration von einem X-Chromosom zuviel hat nur wenig Einfluss auf den Embryo. Numerische Aberrationen von anderen als den Geschlechtschromomen sind außer bei der Trsiomie des Chromosoms 21 (Downsyndrom) nicht lebensfähig", erklärt Andreas Jungwirth, Facharzt für Urologie und Andrologie in Salzburg.

Neben dem Klinefelter-Syndrom gibt es eine Reihe weiterer Chromosomenabnormalien, bei denen die Zahl der Geschlechtschromosome abweicht. So haben Frauen mit dem Triple-X-Syndrom ein X-Chromosom zuviel, weisen daher einen Chromosomensatz von 47,XXX auf. Dies ist die klinisch unauffälligste Chromosomenaberration und wird bei den meisten Frauen nie festgestellt. Männer mit dem XYY-Syndrom werden ebenfalls meist zufällig diagnostiziert. Sie sind durchschnittlich 10 Zentimeter größer als ihre Brüder und die Intelligenz im Vergleich zu Geschwistern oft leicht vermindert. Frauen mit dem Ullrich-Turner-Syndrom fehlt das zweite Geschlechtschromosom (45, X). Betroffenen mangelt es an weiblichen Geschlechtshormonen, wodurch sie unfruchtbar sind. Dieses Syndrom ist durch Kleinwüchsigkeit, Lymphödeme sowie eine Verbreiterung des Halses gekennzeichnet. Fehlt beim Mann ein X-Chromosom, ist er nicht lebensfähig. "Dadurch, dass bei der Frau 2 X-Chromosome vorhanden sind, ist sie genetisch 'stabiler'", erklärt Jungwirth.

Späte Diagnose

Die Diagnose Klinefelter wird bei Patienten oft erst sehr spät festgestellt. Die Entwicklung im Kindesalter wird meist als unauffällig beschrieben, die Kinder sind in der Tendenz eher ruhiger und zurückgezogener als ihre Altersgenossen und haben häufig eine leicht verzögerte motorische und sprachliche Entwicklung. In der Pubertät wird die Chromosomenstörung stärker sichtbar: Die Sekundärbehaarung besteht nur spärlich, der Stimmbruch ist wenig ausgeprägt und Hoden und Penis bleiben klein. Das Syndrom wird häufig erst dann entdeckt, wenn der Kinderwunsch eines Paares unerfüllt bleibt.

Gemeinsam ist den Betroffenen eine Unterentwicklung der Hoden, meist ohne Spermienproduktion, die auf eine eingeschränkte Testosteronproduktion zurückzuführen ist. Da Testosteron unter anderem wichtig zur Beendung des Längenwachstums ist, werden unbehandelte Betroffene oft überdurchschnittlich groß. Durch die unausgewogene Hormonlage kann es auch zu einer Brustentwicklung kommen. „Eine häufige Ausprägung des Klinefelter-Syndroms ist der eunuchoide Hochwuchs und entsprechend lange Armen und Beine. Man schätzt dass rund 20 Prozent der NBA Basketballspieler Klinefeltermänner sind. Viele Betroffene sind aber vollkommen unauffällig und sowohl sozial auch als beruflich gut integriert", erklärt Jungwirth.

Ein Behandlungsbeginn ist zwar in jedem Alter möglich, eine frühzeitige Diagnose bietet dennoch die besten Voraussetzungen für eine angemessene Behandlung.

Selbsthilfe in Österreich

Dass die Ausprägung der Symptome sehr individuell ist, betont auch Kronewitter. Bei ihm wurde die Erkrankung mit 31 Jahren diagnostiziert. Damals gab es in Österreich keine Möglichkeit, sich mit Menschen in der gleichen Lebenssituation auszutauschen - Mediziner verwiesen den Salzburger deshalb nach Deutschland, wo es bereits Selbsthilfegruppen gab. Dies war Ansporn für den heute 48-Jährigen, im Jahr 2003 die erste Klinefelter-Selbsthilfegruppe in Österreich zu gründen. "Wenn die Diagnose Klinefelter-Syndrom gestellt wird, tauchen meist viele Fragen auf", weiß Kronewitter aus Erfahrung. Die Selbsthilfegruppe will Betroffenen und deren Familien erste Antworten geben, sie beraten und ihnen weitere Informationsmöglichkeiten aufzeigen.

Fortschritte in der Reproduktionsmedizin

Da der Großteil der körperlichen Auswirkungen auf den Testosteronmangel zurückzuführen ist, kann Betroffenen, zur Vorbeugung von psychischen und körperlichen Folgen wie Anämien oder einer Osteoporose, durch eine medikamentöse Behandlung mit Testosteron geholfen werden. Dadurch steigert sich bei Männern mit Klinefelter-Syndrom auch das Selbstbewusstsein und die allgemeine seelische Belastbarkeit. Die Behandlung wird im Idealfall ab dem Pubertätsalter begonnen und lebenslang fortgesetzt.

Die einschneidendste Einschränkung für die Betroffenen, die sich derzeit auch durch die Testosteron-Therapie nicht behandeln lässt, ist die Fähigkeit der Hoden zeugungsfähige Spermien zu produzieren. Die Betroffenen bleiben daher auf natürlichem Weg, in der Regel kinderlos. Auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin wurden aber in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt, die einem kleinen Teil der Patienten Hoffnung auf eine eigene Vaterschaft geben. (Ursula Schersch, derStandard.at)