Der Schleimpilz Physarum sieht nicht besonders appetitlich aus. Seine Fressstrategien sind dafür umso raffinierter.

Foto: Michael Gregory

Nein, eine hübsche Kreatur ist Physarum polycephalum gewiss nicht. Die meisten Menschen würden dieses Etwas noch nicht einmal als lebendigen Organismus erkennen. Ein unförmiger, einige Zentimeter großer Klecks gelben Schleims - da möchte man gar nicht genauer wissen, was es ist.

Doch der oberflächliche Betrachter irrt. P. polycephalum-Schleimpilze sind zwar äußerst einfach gebaute Geschöpfe, aber sie haben erstaunliche Eigenschaften. Als Einzeller ohne feste Gestalt ähneln Schleimpilze Amöben, auch wenn sie enorm viel größer sind und jeder von ihnen merkwürdigerweise über eine Vielzahl von Zellkernen verfügt. Was die Nahrung betrifft, ist P. polycephalum nicht wählerisch. Alles, was irgendwie verdaulich ist, wird von der Zellmasse überdeckt und langsam zersetzt. Es muss nur feucht genug sein.

Komplexe Fließdynamik

Der japanische Biophysiker Toshiyuki Nakagaki von der Hokkaido Universität in Sapporo untersucht die seltsamen Eigenschaften der Schleimpilze bereits seit den Neunzigern. Ihn interessierte zunächst die Fließdynamik des Inhalts solcher Riesenzellen und die Mechanismen, die diesen Fluss aufrechterhalten.

Ein einziges P. polycephalum-Exemplar diente Nakagaki als Haupt-Studienobjekt. "Ich habe diesen Organismus jahrelang täglich gefüttert und beobachtet", berichtet der Forscher. Dabei fiel ihm vor allem die offenbar ausgeklügelte Ernährungsstrategie des Schleimpilzes auf. Der Einzeller bewegt sich nicht nur gezielt auf Futter zu, er kann auch durch eine geschickte Verteilung seines Körpers eine Anzahl weiter auseinanderliegender Nahrungsquellen gleichzeitig erschließen. Die Zelle wandelt sich dabei in ein Geflecht aus Kanälen um.

Nakagaki kam eine Idee: Wenn P. polycephalum aus Sparsamkeitsgründen auf möglichst kurze Transportwege zwischen Nahrungsquellen angewiesen wäre, könnte die Kreatur dann auch aus mehreren Möglichkeiten den optimalen Weg auswählen? Zur Beantwortung der Frage ließ der Forscher den Schleimpilz in einem Labyrinth wachsen und legte anschließend je einen Nährstoffwürfel an den Ein- und Ausgang.

Nur acht Stunden später hatte sich die Zelle komplett auf die beiden Futterquellen konzentriert und beide mittels eines einzigen Kanals entlang der kürzesten Route durch das Labyrinth verbunden (vgl. Nature, Bd. 407, S. 470). Für ein Lebewesen ohne Gehirn eine verblüffende Leistung.

Welches weitere Potential hinter der Schleimpilz-Intelligenz steckt, zeigt eine neue, heuer im Fachblatt Science (Bd. 327, S. 439) publizierte Studie eines japanisch-britischen Forschungsteams unter Nakagakis Leitung. Die Experten bauten ein Miniatur-Modell von Tokio und Umgebung auf einer feuchten Kunststoffplatte. Haferflocken stellten die Metropole und die umliegenden Städte dar. Man setzte eine hungrige Physarium-Zelle in "Tokio" ab und wartete, was passiert.

Der Schleimpilz baute ein Netzwerk, welches in seiner Grundstruktur, Störungsresistenz und Effizienz eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem dortigen Eisenbahnnetz hatte. Wiederholungsversuche brachten immer wieder vergleichbare Ergebnisse hervor. Offensichtlich gingen die Einzeller ohne zentrale Steuerung nach denselben Grundsätzen vor wie die japanische Bahngesellschaft.

Mathematisches Modell

Im Anschluss an die Experimente führte das Team eine Analyse der Netzwerkstrukturen durch und machte dabei eine faszinierende Entdeckung: Das Konstruktionsprinzip lässt sich mittels eines einfachen Algorithmus als mathematisches Modell darstellen. In weiter entwickelter Form, so hoffen die Forscher, könnte es zukünftig dazu beitragen, Netzwerke aus Menschenhand stabiler und zuverlässiger zu machen. (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Printausgabe, 27.01.2010)