Kleine Schnitte auf einem alten Knochen als großer Schritt für unsere Vorfahren: die frühesten Spuren von Steinwerkzeugen.

Foto: Dikika-Forschungsprojekt

London - "The first cut is the deepest", sang Cat Stevens vor auch schon wieder 43 Jahren. Was sich in Sachen Liebesleid womöglich sogar psychologisch beweisen lässt, gilt für die Geschichte unserer Vorfahren eher nicht. Die ersten Schnitte, die unsere Vorfahren an Knochen im heutigen Äthiopien hinterlassen haben, sind gerade einmal rund einen Millimeter tief und nicht einmal einen Zentimeter lang.

Das Spektakuläre an diesem Fund ist denn auch sein Alter: Die Knochen, auf denen sich die feinen Schnittspuren befinden, werden auf 3,4 Millionen Jahre geschätzt - und sind damit 800.000 Jahre älter als die bisher ältesten Schnittspuren. Und das wiederum bedeutet, dass der Zeitpunkt erheblich nach vorne zu verschieben ist, "ab dem unsere Vorfahren die Spielregeln komplett änderten", sagt Zeresenay Alemseged.

Mit der "Veränderung der Spielregeln" meint der Paläoanthropologe, der aus Äthiopien stammt und an der kalifornischen Akademie der Wissenschaften arbeitet, nichts anderes als den erstmaligen Einsatz von Steinen als Werkzeuge. Dadurch wurde buchstäblich mit einem Schlag der Verzehr neuer Nahrungsmittel und die Erschließung neuer Territorien möglich - sowie die Herstellung weiterer neuer Werkzeuge.

Der bisher älteste Beweis für das Schlachten von Tieren mithilfe von Steinwerkzeugen stammt ebenfalls aus Äthiopien: In der Nähe von Gona wurden mehrere angeschnittene Knochen gefunden, deren Alter auf 2,5 Millionen Jahre datiert wurde. Die nun in der Wissenschaftszeitschrift "Nature" (Bd. 466, S. 857) von Alemseged und Kollegen beschriebenen Knochen stammen aus Dikika. Dort hatte sein Team auch schon "Selam" entdeckt, ein Mädchen der Art Australopithecus afarensis, das - so wie die noch berühmtere "Lucy" - vor etwa 3,3 Millionen Jahren lebte.

Lucy war eine Fleischesserin

"Wenn wir uns Lucy beim Durchstreifen der ostafrikanischen Landschaft auf der Suche nach Nahrung vorstellen, sehen wir sie nun erstmals mit einem Steinwerkzeug in der Hand auf Fleischsuche", sagte der am Dikika-Forschungsprojekt beteiligte Archäologe McPherron vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie.

Die zwei Knochen mit den Schnittspuren stammen von großen Säugetieren, vermutlich von einer Ziege und einer Kuh. Unsere Vorfahren schabten mit scharfen Steinen das Fleisch vom Knochen ab oder brachen den Knochen auf, um an das Knochenmark zu gelangen.

Da unsere nächsten lebenden Verwandten, also Schimpansen und Bonobos, Tiere dieser Größenordnung nicht jagen, müssen Australopithecinen aus Dikika die Tiere verzehrt haben. Ob diese Tiere gejagt wurden oder ob die Australopithecinen Aasfresser waren, lässt sich aber noch nicht sagen.

Das ist freilich nicht die einzige Frage, die der neue Knochenfund aufwirft. So ist auch noch zu klären, ob Lucy, Selam und ihre Kollegen tatsächlich schon Werkzeuge herstellen konnten oder einfach scharfkantige Steine gefunden und zum Fleischschneiden benutzt haben. Bis jetzt hat das Forscherteam jedenfalls noch keinen Beleg für die Herstellung von Steinwerkzeugen aus dieser frühen Zeit gefunden. (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Printausgabe, 12. 8. 2010)