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Christoph Schlingensief in seiner animatografischen Installation "Chickenballs" , die im Jahr 2006 im Museum der Moderne in Salzburg zu sehen war.

Foto: APA / Franz Neumayr

Wien/Berlin - Die Utopie von einem Festspielhaus in Afrika hat sich nicht mehr ganz verwirklichen lassen. Das haben Utopien so an sich. Und Christoph Schlingensief, der nun zweieinhalb Jahre nach seiner Krebsdiagnose am Samstag in Berlin gestorben ist, hat mit diesen Desillusionierungen auf unnachgiebige Weise gerungen. Die Unmöglichkeit seines Afrika-Traumes schien von Anfang an in das Projekt miteinberechnet gewesen zu sein, und war jüngst auf frappierende Weise in Via Intolleranza II dessen Thema.

Die an Luigi Nonos Aktions-Oper Via Intolleranza 1960 angelehnte Arbeit wurde ein von der Unzulänglichkeit des Schaffens und des Dagegenhaltens geprägtes Bühnenereignis, das als erste aus dem Operndorf in Burkina Faso hervorgegangene Produktion bei den diesjährigen Wiener Festwochen im Arsenal zu sehen war. An zwei Abenden Mitte Juni hatte Schlingensief noch Kraft genug, um selbst mitzuwirken. Da stand die neuerliche Krebsdiagnose allerdings schon fest.

Auf anarchische Weise ragte das Leben in die Arbeiten des 1960 in Oberhausen geborenen Künstlers immer hinein. Einmal hat er eine Vorstellung unterbrochen, trat auf die Bühne und erzählte vom Tod seiner Großmutter. Das mag ein einfaches Beispiel sein, doch es zeigt den Grundgedanken seiner Interventionen. Diese waren Formen der Erschütterung, die das Theater lehrten, über seine eigentlichen, mitunter eigentümlichen Gesetzmäßigkeiten weit hinauszugehen. Schlingensief war praktischer Mitbegründer jener Begrifflichkeiten, die heute die Theaterliteratur prägen, und mit denen in den 1990er-Jahren und darüber hinaus jene mediale Entgrenzung betrieben wurde, an der sich junge Theatermacher und -macherinnen heute abarbeiten.

Die entscheidende Adresse in Schlingensiefs Biografie hieß ab 1993 Berliner Volksbühne bzw. Frank Castorf. Hier hat dieser über die Maßen aufgeweckte Mensch jene Un-Dramaturgien weiterentwickelt, die er schon in den ersten Super-8-Filmen als Gymnasiast und später bei Experimentalfilmer Werner Nekes um- und einsetzte. Schon in der "Trilogie der Filmkritik" (u. a. Menu total) liegt die narrative Totalirritation zugrunde, die seine danach folgenden Arbeiten ausmacht. Mit der "Deutschlandtrilogie" (u. a. Das deutsche Kettensägenmassaker) wurde Schlingensief dann als Filmregisseur erstmals bekannt. Aus diesen filmischen Fundamenten entwickelte Schlingensief seine Theaterentwürfe.

Deutschland als Wunde

100 Jahre CDU - Spiel ohne Grenzen, Kühnen '94 - Bring mir den Kopf von Adolf Hitler oder Rocky Dutschke '68 - allesamt an der Volksbühne herausgebracht - haben Schlingensief als Theatermacher und Aktionskünstler vorgestellt. Beim Steirischen Herbst war Schlingensief 1995 erstmals mit dem Auftragswerk Hurra, Jesus! Ein Hochkampf zu Gast. Auf zwingende Weise waren die Produktionen immer an politische, moralische und soziale Anliegen gebunden. Im Fokus: Deutschland als Wunde, Familie (Mamas Maske), Krieg (Jelineks Bambiland), Religion. All das setzte er mit einem die Sparten durchdringenden Denken und Arbeiten und in weltumschlingenden Gesten ins Bild. Und in diesen Bildern war immer der Teufel los, das Chaos, der semiotische Clash, beginnend bei den frühen Filmen bis herauf zu Richard Wagners Parsifal, den er bei den Bayreuther Festspielen ab 2004 inszenierte oder Theaterhybriden wie Area 7 - Matthäuspassion. Als riesiger Mythenparcours wucherte dieser von der Bühne des Burgtheaters herunter ins Parkett, alles kommunizierte mit allem: Hitler mit Joseph Beuys, Parsifal mit Afrika.

In diesem lebhaften Material der Überforderung, in den bis zum Zerbersten aufgetürmten Assemblagen war Schlingensief als Moderator seiner Aktionskunst immer mit von der Partie. Schlingensief war immer dort, wo auch seine Kunst war. Er reiste mit seinem Animatografen nach Island, mit dem Fliegenden Holländer nach Manaus, quartierte sich mit seinem Ensemble in eine Polizeistation in Hamburg ein oder schwamm mit seiner Partei Chance 2000 durch den Wolfgangsee, um den Urlaubsort des deutschen Kanzlers zu fluten.

Dabei hat er das Hinschauen unter völlig neue Bedingungen gestellt, er hat auf der Bühne Kameras dazwischengeschaltet oder sich selbst mit Megafon und Perücke zum Sprecher erklärt. Denn es war in diesem Projekt des Gesamtkunstwerks durchaus vorgesehen, ein Mensch mit Bekanntheitsgrad zu werden.

Realität kenntlich machen

Diese Form von Kunst hat eine Person bedingt, die sich selbst zum Teil ihrer Idee macht. Bis hin zur Erkrankung, die deshalb konsequent zur Kunst wurde ("Ich gieße eine soziale Plastik aus meiner Krankheit" ). In Mea Culpa, 2009 am Burgtheater uraufgeführt, hat der Regisseur seine Krebserkrankung als Opern-Revue thematisiert. Die Erfahrungen des Krankseins hatte er in Smash - In Hilfe ersticken weiterbehandelt, doch die Produktion für die Ruhrtriennale in Mülheim musste bereits abgesagt werden.

Es ging immer um die Kenntlichmachung von vorherrschender Realität: So verschärfte die nach den Prinzipien des TV-Rauswählformats Big Brother konzipierte Container-Aktion Ausländer raus - Bitte liebt Österreich anno 2000 den Sommer vor der Wiener Staatsoper - Abschiebepraxis als Performance.

Schlingensiefs Kunst verstand sich auch von Grund auf als eine soziale Bewegung, die sich dem Konflikt zwischen den Systemen Politik, Leben und Kunst aussetzte und dabei das Defizitäre hervorhob. In diesem Kontext hat er die Church of Fear gegründet, die bei der Biennale Venedig 2003 vorgestellt wurde. 2011 hätte er den deutschen Pavillon der Biennale gestalten sollen. Dazu kommt es nicht mehr. Christoph Schlingensief wäre am 24. Oktober fünfzig Jahre alt geworden. (Margarete Affenzeller/DER STANDARD, Printausgabe, 23. 8. 2010)