Feingold: "Als KZler auftreten, dann haben sie Angst vor dir."

Foto: IKG Salzburg

STANDARD: Sie waren nach der Befreiung 1945 in Salzburg für die jüdische Flüchtlingsorganisation "Bricha" tätig. Was waren Ihre Aufgaben?

Feingold: Ich habe im Salzburger Stift St. Peter anfangs eine Küche für politisch Verfolgte geleitet. Das war vorher die ehemalige Küche des Nazi-Stadtkommandanten. Die Küche wurde in das Gegenteil umgewandelt. Ich hatte dort 500 Leute zu verpflegen, das in einer Zeit, wo es keine Lebensmittel gab. Die Bezugsscheine habe ich vom Ernährungsamt bekommen, aber die Großhändler wollten nichts hergeben, wenn man sie nicht schmiert. Aber es ist mir doch gelungen. Man hat mir gesagt: Du musst als KZler auftreten, dann haben sie Angst vor dir, und sie werden dir etwas geben. Im Herbst 1945 waren in Salzburg an die 30.000 Juden - alle Kasernen, alle Lager waren voll. Auch das Bräustübel war voll mit Betten. Dann kamen die Amerikaner zu mir, weil die Flüchtlinge hungerten. Es fehlte an Gemüse, an Kartoffeln. In diesen Lagern waren um die 80 Zivilleute beschäftigt. Der Einzige, der den österreichischen Boden kannte, war ich. Ich bin hergegangen und habe die Administration der "Jewish DP-Camps" geschaffen. Die Leute waren bei der Krankenkasse angemeldet, die Bricha hat alles gezahlt. So bin ich da hineingerutscht.

STANDARD: Sie haben auch für den Weitertransport der Menschen gesorgt?

Feingold: Im September, Oktober 1945 kamen die Amerikaner wieder zu mir: Herr Feingold, weitere Transporte sind angesagt. Aber alle Lager waren bereits überfüllt. Man ist also zu mir gekommen, wir brauchen Lastautos für den Weitertransport. Ich selbst hatte aber nur einen Wagen von der Stadtgemeinde bekommen, um meine Küche zu versorgen. Ich bin also zur Landesregierung, die haben das stehengebliebene Heeresgut in ihre Verwaltung übernommen. Ich bin da hin, dort hat es geheißen: Nein, einen Wagen haben Sie für die Lebensmittel, der muss genügen. Dann kam mein berühmter Spruch, den hatte nur ein Jude sagen dürfen: Entweder ich kriege die Autos, oder die Juden bleiben da! Wie viele Autos brauchen Sie, war die Antwort. Am Anfang konnten wir noch ein paar Mal über den Brenner fahren. Dann hatten die Engländer erfahren, dass dies von Salzburg aus organisiert wird, und haben das dann unterbunden. Dann haben wir kleinere Übergänge gesucht.

STANDARD: Die österreichischen Behörden wollten also die jüdischen Flüchtlinge möglichst schnell weghaben?

Feingold: Ja, man war antisemitisch. Ich kenne die österreichische Mentalität. Sie waren Antisemiten, durch den Nationalsozialismus ist das gesteigert worden. Man kann einen weißen Mantel nicht ablegen und sagen, so der ist jetzt schwarz. Das geht nicht, das war weiter im Blut. Und man darf eines auch nicht vergessen: Kurz nach 1945 hat keiner zugeben wollen, dass er in der Nazizeit profitiert hatte. Aber ganz Österreich hat profitiert. 200.000 Juden und auch anderen hat man einen Haufen Sachen weggenommen - in Wien allein 60.000 Wohnungen. Das war die Geschichte in Österreich: lauter Profiteure. Nicht alle waren Schreibtischtäter, so viele Mörder haben wir nicht brauchen können, die wenigen, die wir gehabt haben, haben genug getan. Nutznießer waren aber alle.

STANDARD: Waren Sie sich damals der historischen Dimension Ihres Tuns bewusst? Waren Sie sich bewusst, dass Ihre Tätigkeit wesentlich zur Gründung des Staates Israel beiträgt?

Feingold: In jüdischen Kreisen war man gut informiert. Wir wussten, dass in keinem Land Europas die Juden wieder aufgenommen werden. In allen Ländern war es dasselbe wie in Österreich, man hatte Angst, man muss etwas zurückgeben. Es ging nur ums Zurückgeben. An den Staat Israel habe ich damals noch nicht gedacht. Aber natürlich habe ich verstanden, wir müssen schauen, die Leute nach Israel zu bringen. Ich selbst musste die Flüchtlinge nach Italien, nach Meran bringen. Von dort wurden sie verteilt und mit alten Frachtschiffen weitertransportiert. Die Engländer haben viele Schiffe aufgebracht und die Menschen dann auf Zypern interniert.

STANDARD: Haben Sie jemals daran gedacht, selbst nach Palästina zu gehen?

Feingold: Den Katholiken habe ich darauf immer gesagt: Wenn du nach Rom gehst, gehe ich nach Israel. Ich war in Salzburg so verwickelt, ich habe helfen wollen und habe geholfen. Ich habe zwar kein Geld gekriegt, aber es wurde für mich alles gezahlt: Krankenkasse, Quartier, Auto. Es ging mir sehr gut. Von den insgesamt 250.000 Flüchtlingen sind nur 500 Juden in Salzburg ansässig geworden. 1968 haben sie maturareife Kinder gehabt. Alle sind ins Ausland gegangen, weil bei den Professoren, die wir hier haben, schaffe ich keine Matura. Die ganzen alten Nazilehrer waren da. Kein Einziger ist nach Salzburg zurück. Die Jugend fehlt uns.

STANDARD: Sie sagen, die Österreicher waren auch nach 1945 antisemitisch. Es hat aber auch einige gegeben, die geholfen haben, wie die Wirtin des Krimmler Tauernhauses Liesl Geisler. Sie hat 5000 Menschen bei deren Flucht über den Krimmler Tauern unterstützt.

Feingold: Selbst die Frau, die da geholfen hat ...

STANDARD:  ... war in der NSDAP ...

Feingold: ... ja, aber ich trete dafür ein, ihr das zu verzeihen. Im Sommer 1946 wurde der letzte Weg über die französische Zone auf Druck der Engländer geschlossen. Ich habe dann den alten Samerweg über den Krimmler Tauern entdeckt, wo früher schon andere geschmuggelt hatten. Vom Lager in Saalfelden sind in der Nacht 150 Personen - meist jüngere, die den ZehnStunden-Marsch machen können - ausgesucht worden und sind von Krimml aus aufgestiegen. Die Gendarmen hatten die Anweisung, einfach nicht aus dem Fenster zu sehen. Die Frau Geisler hat sich übermenschlich bemüht, den Müttern zu helfen. Sie hat Herausragendes getan, es wären sonst 5000 Juden weniger nach Israel gekommen. (Thomas Neuhold, DER STANDARD Printausgabe, 22./23.1.2011)