Grafik: DER STANDARD

Ein Rütteln, ein Knall. Plötzlich, um 16.40 Uhr Ortszeit, steht vom Reaktorgebäude des Meilers 1 im Kernkraftwerkskomplex Fukushima im Zentrum des japanischen Megabebens nur noch das Gerippe da. Eine riesige Explosion hat ihn zerfetzt. Und Japan erschauert vor dem atomaren GAU. Stunden zuvor hatte die Regierung gewarnt, dass in dem Meiler eine nukleare Kernschmelze wie damals in Tschernobyl drohe.

Der Grund ist das Mega-Erdbeben in Japan, das es - nach menschlichem Ermessen - eigentlich nicht hätte geben dürfen. "Wir haben niemals erwartet, dass ein Beben dieser Stärke die Region Sanriku trifft", gestand am Freitag Hirofumi Yokoyama von Japans Wetteramt, das für die Erdbebenmessung und Tsunami-Warnung zuständig ist. Sanriku ist der Name der Region im Nordosten des Landes.

Kühlung versagt

Mit einem Beben der Stärke 8 hatten sie wohl gerechnet in jener Region, in der sich die pazifische unter die eurasische Erdplatte schiebt. Aber 8,8 auf der Richterskala galt als ausgeschlossen. Die freigesetzte Energie war 127-mal größer als beim Kobe-Erdbeben 1995, das mit seiner Stärke von 7,3 6400 Menschenleben gefordert hatte. Im dünner besiedelten Nordosten werden mehr als 1000 Tote erwartet, und das scheint eher optimistisch geschätzt: Allein in der Hafenstadt Minamisanriku galten noch Samstagabend rund 10.000 Menschen als vermisst.

Durch das Erdbeben und den anschließenden Tsunami hat die Kühlung im Reaktor von Fukushima versagt. Die Brennstäbe ragten aus dem Kühlwasser heraus und heizten sich auf, der Druck stieg. Radioaktivität trat aus. Ohne zu zögern, löste die Regierung den ersten Atomalarm aus. Im Wettlauf mit der Zeit pumpten die Retter Wasser in den Reaktor und ließen Druck ab. Tepco, der Tokioter Stromerzeuger, meldete erst, dass die Temperatur sinke. Da flog das Gebäude auseinander - und die Regierung verdoppelte die Evakuierungszone auf 20 Kilometer.

Regierung beruhigt

Am Abend erklärte der Kabinettamtschef der Regierung, Yukio Edano, dass es sich um eine Explosion von Wasserstoff gehandelt habe, der sich in der großen Hitze im Reaktorkern entwickelt habe. Der Reaktorbehälter sei unbeschädigt geblieben. Doch Experten gehen davon aus, dass es wenigstens zu einer teilweisen Kernschmelze gekommen ist. Denn im Umkreis wurden die Spaltprodukte Cäsium und Jod gefunden.

Damit wäre Japan noch einmal haarscharf an einer Tschernobyl-Katastrophe vorbeigeschrammt und hätte "nur" den Unfall von Three Mile Island in Harrisburg in den USA. Aber für Japans ambitioniertes Atomprogramm wäre auch das ein schwerer Schlag. 54 Atommeiler liefern 30 Prozent des Stroms. Und die Regierung will den Anteil auf 40 Prozent ausbauen - allen Erdbebenwarnungen von Atomkraftgegnern zum Trotz.

Doch die damalige Regierung behauptete selbst nach dem Niigata-Erdbeben von 2007 unter dem größten Kernkraftwerkskomplex der Welt in Niigata, dass ihre Meiler gegen alle vorstellbaren Erdbeben gewappnet seien. Dabei hatten die Planer schon damals mit ihren Erdbebenberechnungen furchtbar daneben gelegen. Sie hatten nicht nur behauptet, dass die Region nicht von einem Beben der Stärke 6,9 heimgesucht werden könnte. Auch sollte es, laut ihren Berechnungen, unter dem Atomkraftwerk keine aktive Erdverwerfung und damit keinen Erdbebenherd geben. Sie lagen falsch. Nur mit Glück entging Japan schon damals der Katastrophe. Nur geringe Mengen an Radioaktivität traten aus, und die Schäden waren gering.

Das Symbol für das Drama ist Kesennuma, ein verschlafenes Fischerstädtchen in der Präfektur Iwate. Das stärkste Erdbeben in der an Erdbeben reichen Geschichte des Landes hat die Siedlung buchstäblich ausgelöscht. Die ersten Häuser brachen unter der Wucht der Erdstöße zusammen. Dann schwemmte ein riesiger Tsunami Autos und Häuser fort. Und in der Nacht brannte der Ort lichterloh - ohne jede Aussicht auf Hilfe. Für die Feuerwehr gab es kein Durchkommen.

Angst vor Nachbeben

Vorbei ist das Unheil noch lange nicht. Fast im Zehn-MinutenTakt wurde bis in den Samstag hinein die Insel von Nachbeben erschüttert, die selbst Hochhäuser in Tokio wieder zum Schwanken brachten. In der Nacht auf Samstag wurden die nördlich von Tokio gelegenen zentraljapanischen Präfekturen Nagano und Niigata von zwei Erdbeben heimgesucht, die unter gewöhnlichen Umständen höchstens eine kleine Schlagzeile wert gewesen wären. Die Regierung warnte vor weiteren Starkbeben in Tokio oder der Tonankai-Region im Südwesten der Millionenmetropole. Dort wird sogar ein Beben der Stärke 8 erwartet. "Es könnte so stark sein, dass es die Flanke des Fuji-san einbrechen lässt", meint ein Geologe, der nicht genannt werden will, weil er nicht als Alarmist darstehen will.

Die Warnungen sind ernst zu nehmen. Selbst ein Beben wie in Kobe würde nach einer amtlichen Simulation aus dem Jahr 2005 in Tokio im schlimmsten Fall 11.000 Tote fordern und Schäden in Höhe von rund einem Fünftel des japanischen Bruttoinlandsprodukts verursachen.

Ein Beben der Stärke 8 ist offiziell niemals durchgerechnet worden. Offiziell, weil solche Beben in Tokio laut Statistik nur alle 200 bis 300 Jahre vorkommen. Und das letzte große Beben ist ja erst 90 Jahre her. Aber ein Berater der Regierung verrät, dass der eigentliche Grund für die Ignoranz die drohenden horrenden Schäden gewesen seien. Es würde psychologisch keinen Sinn machen, ein unbeherrschbares Szenario mit womöglich hunderttausenden oder Millionen Toten durchzurechnen, sagte der Experte. Niemand würde zusätzliche Vorsorge treffen, die auch im schlimmsten Fall Menschenleben retten kann.

Perfektes Rollenspiel

Premierminister Naoto Kan und sein Krisenstab sowie die Fernsehansager im Krisengebiet spielen ihre Rollen jedenfalls perfekt. Die Minister haben ihre Anzüge gegen blaue Blazer getauscht, wie sie in Japan Techniker tragen. Durch den Kostümwechsel demonstrieren sie: Der Regierungschef hat die Lage im Griff. Die gestärkten Bügelfalten scheinen Teil des Beruhigungsprogramms zu sein. Die Ansager in den Fernsehstudios sagen ihre Texte mit Helmen auf den Köpfen auf. Damit geben sie ihren Worten mehr Ernst und zeigen zugleich vorbildliches Krisenverhalten.

So geschult, gingen auch in Tokio die Menschen ruhig auf die Straßen, anstatt zu rennen. Auf die Angst reagierten sie wegen ihrer Ausbildung nicht mit dem Fluchtreflex. Denn die Japaner wissen: "Gegen Erdbeben kann man nichts machen, sondern nur hoffen, nicht da zu sein, wenn es trifft", sagt eine Frau. Die täglichen Erdbeben, gelegentliche Vulkanausbrüche und regelmäßige Taifune mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 200 Stundenkilometern haben die Japaner gelehrt, dass sie ihrem Schicksal nicht entrinnen können.

Prompte Reaktion

Die Regierung hat offenbar aus ihrem Scheitern bei der Bewältigung des Kobe-Erdbebens gelernt. Damals übernahm die Yakuza, die örtliche Mafia, die Notversorgung, weil der Staat dazu nicht in der Lage war. Dieses Mal richtete die Regierung sofort einen Krisenstab ein und mobilisierte das Militär zu einem beispiellosen Großeinsatz. 50.000 Soldaten sind im Einsatz, retten Menschen, räumen Trümmer weg, liefern Nahrungsmittel und Wasser. Sogar die USA hat die Regierung um Hilfe gebeten.

Finanzminister Yoshihiko Noda hat bereits versprochen, dass es an staatlichem Geld, ungeachtet der hohen Staatsverschuldung von fast 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, für den Wiederaufbau nicht mangeln soll. Damit riskiert die Regierung zwar eine weitere Abwertung ihrer Kreditwürdigkeit. Aber eine Alternative gibt es nicht. Die Notenbank kündete für Montag eine Krisensitzung an, um die Wirtschaft zu stützen und die Finanzmärkte zu beruhigen. (Martin Kölling aus Tokio, DER STANDARD, Sonderausgabe, 12.3.2011)