Grafik: DER STANDARD

Tokio/Wien - Die Welt fürchtet ein zweites Tschernobyl. Vor allem die gewaltige Explosion, die am Samstag Teile des Atomkraftwerks in der japanischen Stadt Fukushima zerstörte, verschärfte die Sorge vor einer nuklearen Katastrophe. Mit ungeheurer Wucht wurden Trümmer in die Luft geschleudert, große Rauchwolken breiteten sich über der Anlage aus. Den ganzen Tag lang gab es unterschiedliche Meldungen darüber, wie groß die Gefahr einer Kernschmelze sei. Der Wiener Atomexperte Helmut Rauch sagte in einer Einschätzung der Fernsehbilder, dass es sich wahrscheinlich um einen GAU handle. In Japan hieß es hingegen, dass der Reaktor nicht beschädigt worden sei.

Wie der Standard berichtete, war nach dem schwersten Erdbeben in der Geschichte Japans die Kühlung des Atomreaktors Fukushima 1 ausgefallen. Die Behörden riefen erstmals in der Geschichte Japans den atomaren Notstand aus. Im Umkreis von zwanzig Kilometern rund um die AKW-Anlage, deren zehn Reaktoren elf Kilometer auseinander liegen, wurden Evakuierungen angeordnet.

Kabinettssekretär Yukio Edano erklärte Samstagnachmittag, was geschehen sei: Durch das Absinken des Kühlwasserstandes in dem Siedewasserreaktor habe sich Wasserstoff gebildet, der in das Reaktorgebäude ausgetreten sei. Dort habe sich der Wasserstoff beim Kontakt mit Sauerstoff entzündet und habe die Explosion verursacht, durch die das Reaktorgebäude eingestürzt sei. Im Inneren der Stahl-Reaktorhülle habe es aber keine Explosion gegeben. Es sei auch noch keine große Menge Radioaktivität ausgetreten.

Immer wieder Störfälle

Um Druck aus dem Reaktorkern abzulassen, hatten die Betreiber ein Ventil geöffnet. Dadurch war auch Radioaktivität in die Umgebung gelangt. Nach der Explosion sollte der Reaktorkern des an der Küste gelegenen Kraftwerks mit Meerwasser gefüllt werden. Dem Wasser werde Borsäure beigemischt, um kritische Entwicklungen zu vermeiden. Der Füllvorgang werde fünf bis zehn Stunden dauern, kündigte Edano an.

Günter Liebel vom österreichischen Umweltministerium rechnete Samstagabend in einem Gespräch mit der Austria Presse Agentur mit einem schweren Störfall der Stufe 6 oder 7 auf der Skala für nukleare Ereignisse (Ines). Die höchste Ines-Stufe 7 wurde bisher nur beim Super-GAU von Tschernobyl vor 25 Jahren erreicht.

Der 1970 in Betrieb gegangene Block 1 von Fukushima sollte bald stillgelegt werden. Eine Datenbank des Forschungszentrums Nuclear Training Centre in Slowenien nennt als "erwartetes Datum" März 2011.

Der Bau des Reaktorblocks begann laut World Nuclear Association im Juli 1967, die Leitung lag damals beim US-Konzern General Electric. Am 17. November 1970 ging der vom Stromversorger Tokyo Electric Power Company (Tepco) betriebene Siedewasserreaktor mit einer Bruttokapazität von 460 Megawatt ans Netz. Die Reaktorblöcke 2 bis 6 wurden 1974 bis 1979 gebaut. Elf Kilometer südlich des Atomkraftwerks Fukushima I befindet sich Fukushima II mit vier Reaktoren, die 1982 bis 1987 gebaut wurden.

In der Anlage, rund 200 Kilometer nordöstlich von Tokio, hat es immer wieder Störfälle gegeben: Bei einem Erdbeben schwappte 2008 radioaktives Wasser aus einem Becken, in dem verbrauchte Brennstäbe lagerten. 2006 trat radioaktiver Dampf aus. Im Jahr 2000 musste ein Reaktor wegen eines Lochs in einem Brennstab abgeschaltet werden. 1997 und 1994 gab es ähnliche Vorfälle, bei denen etwas Radioaktivität freigesetzt wurde. Im September 2002 musste Teco einräumen, Berichte über Schäden jahrelang gefälscht zu haben. Mehrere Manager traten zurück.

Für einen Super-GAU wurden bereits Wettervorhersagen getroffen: Sollte sich eine radioaktive Wolke bilden, würde diese zumindest bis Montag durch den Wind nach Nordosten aufs offene Meer getrieben und dort stark abbauen. (red, DER STANDARD, Sonderausgabe, 13.3.2011)