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Der angehende Monarch Prinz Albert von York wird in "The King's Speech" von seinem Sprachtherapeuten mit unkonventionellen Methoden behandelt.

Foto: APA/The Weinstein Company, Laurie Sparham

Der Mann steht vor dem Mikrofon. Vor ihm ein mit Menschen gefülltes Stadion. Sie alle warten auf seine Ansprache, handelt es sich doch schließlich um Prinz Albert von York, den späteren König Englands. Doch schon beim ersten Satz fängt er an zu stottern. Fortan wird der angehende Monarch vom Sprachtherapeuten Lionel Logue mit unkonventionellen Methoden behandelt. Körperertüchtigung, Singen und das Herausbrüllen von Schimpfwörtern gehören zu diesen Praktiken.

Der Film "The King's Speech" war bei der diesjährigen Oscar-Verleihung der Renner. Ev Wieser, seit mehr als 30 Jahren Logopädin an der Innsbrucker Universitätsklinik für Hör-, Stimm- und Sprachstörungen findet den Film im Großen und Ganzen gut gelungen, "weil es eine der wenigen Filme ist, bei dem Stotternde nicht diskriminiert werden." Derbes Fluchen als Behandlungsmethode gehört dennoch nicht zu ihrem Berufsalltag.

Erstuntersuchung

Wieser therapiert überwiegend Kinder, aber auch Erwachsene, die aber nur ein Drittel ihrer Patienten ausmachen. Bei Kindern baut die Logopädin spielerisch Kontakt auf. "In der Erstuntersuchung kommt dem Alter adäquates Spielmaterial zum Einsatz, um die Spontansprache des Kindes zu testen, weil das Stottern meistens in der Spontansprache auffällig ist", erzählt die Expertin.

Kindgerechte Sprache und Enttabuisierung spielen dabei eine große Rolle. Das Stottern wird daher als Hüpfen, Bremsen oder Kleben beim Sprechen bezeichnet. Hüpfen steht für das Wiederholen, Kleben für das Langziehen von Lauten, Silben und Wörtern. Bei schulreifen Kindern werden oft auch eine Tonbandaufnahmen gemacht, um die Sprechunflüssigkeiten genauer zu analysieren.

Das Erstgespräch dient auch dazu, den Grad des Stotterns zu beurteilen. Ist das Stottern im Vordergrund, dann ist eine logopädische Therapie erforderlich. Handelt es sich primär um eine Sprachentwicklungsstörung mit sekundärer Sprechunflüssigkeit dann ist mitunter neben der notwendigen Therapie der Sprachstörung auche eine anderre Behandlungsform, wie die Ergotherapie, wichtig. Interdisziplinäres Arbeiten gehört daher für Wieser zum Berufsalltag.

Symptome modifizieren

Bei Kindern liegt laut Wieser der Fokus nicht primär auf dem Erlernen von Sprechtechniken, sondern darauf das Stottern spielerisch zu kontrollieren. Nach der ersten Identifikationsphase, dem Akzeptieren des Stotterns, führt die Logopädin den Patienten an die Veränderung seiner Sprache heran. "Wie mache ich mein Stottern anders, wie modifiziere ich den Sprechansatz?" ist die zentrale Frage. Bei kleinen Kindern geht es um das Vor- und Nachmachen spielerischer Übungen. Bei Jugendlichen kommt die Stufe der Desensibilisierung hinzu. "Durch absichtliches Stottern verliert das Stottern dann seinen Schrecken", so Wieser.

In der Therapie mit erwachsenen Patienten spielt neben Sprechtechnik und Körperarbeit auch der kognitive Bereich auch eine große Rolle. "Erwachsene reflektieren das eigene Tun viel mehr. Als erwachsener Stotternder ist man auch viel mehr mit Klischees und Missverständnissen konfrontiert", ergänzt Wieser. Erwachsene Stotternde haben es schwer - davon weiß auch Ingrid Haberl, Präsidentin des Berufsverbands "logopädieaustria" zu berichten. Zu Missverständnissen komme es beispielsweise bei Polizeikontrollen auf der Autobahn, wenn sich Betroffene aufgrund ihrer Sprechstörung nicht mitteilen können oder nicht verstanden werden. Der Berufsverband hat daher Ausweise für Stotternde entwickelt, den sie in Stresssituationen ihrer Umwelt zeigen können. Haberl bedauert, dass das "Unvermögen des Sprechens immer noch mit dem Unvermögen des Denkens gleichgesetzt wird."

In-Vivo-Arbeit

Vorurteile und die Probleme bei der Kontaktaufnahme mit anderen Menschen hinterlassen tiefe Spuren. Daher ist die In-Vivo-Arbeit, das Einbeziehen von alltagsentsprechenden Situationen wie Telefonieren von großer Bedeutung. Wieser greift hier nicht nur auf Rollenspiele zurück, sondern geht gemäß dem Motto "Raus aus dem Therapieraum" mit den Patienten auch mal zum Einkaufen in den Supermarkt. "Erst durch Einbezugnahme der In-Vivo-Arbeit kann es zur Stabilisierung der Sprechflüssigkeit kommen", betont die Logopädin.

"Jede Person hat ihre eigene Stottergenese, es kann keine Therapie übergestülpt werden", so Wieser. Die Therapie ist daher individuell zugeschnitten. "Das macht den Beruf so spannend, weil es nicht das Kochrezept gibt", ergänzt Haberl.

Eine Herausforderung ist der Beruf auch für Ev Wieser aus Innsbruck. "Es ist spannend sich auf neue Stotterformen und neue Menschen einzustellen." Weiterbildung und Spezialisierung ist für Logopäden daher ein Muss.

Interdisziplinäre Ausbildung

Der Berufsverband "logopädieaustria" bietet regelmäßig Weiterbildungsseminare und Fortbildungszertifikate an. Ausgebildet werden angehende Logopäden seit 2007 nur mehr an Fachhochschulen.

Das Studium "Logopädie - Phoniatrie - Audiometrie" ist interdisziplinär ausgerichtet und spiegelt die unterschiedlichen Therapiebereiche und Berufsfelder von Logopäden wider. Heißt es in "The King's Speech" noch, dass alles auf die Mechanik, also die richtige Technik hinausläuft, besteht der Berufsalltag tatsächlich nicht nur aus Sprech- und Stimmtechniken.

Neurologie und Geriatrie

"Logopädie ist nicht nur Arbeit mit Kindern. Es gibt auch sehr viel Körperarbeit und neurologische Fälle auf Intensivstationen", erzählt Wieser. Während manchen Berufsanwärtern die Arbeit mit Patienten, die nach einem Schlaganfall ihre Sprachfähigkeit verloren haben, gefällt, finden andere ihre Erfüllung im Geriatriebereich. Dort haben Logopäden unter anderem mit dementen Patienten zu tun, die mit Sprach- und Verständnisstörungen kämpfen.

Niedergelassene Logopäden mit eigener Praxis sind laut Haberl auch vermehrt für Privatfirmen tätig, insbesondere in Branchen, in denen die Stimme oft eingesetzt wird wie im Callcenter und wo es vermehrt zu Stimmstörungen der Mitarbeiter kommt.

Gefragte Logopäden

Die Nachfrage an Logopäden ist groß, doch bedauernswerterweise ist der Beruf laut Wieser immer noch ein „extrem frauenlastig". Sie vermisst auch mehr Studierende mit Migrationshintergrund. "Logopädie ist nicht auf diejenigen mit deutscher Muttersprache beschränkt", hebt sie hervor.

Das Schönste ist für Wieser, wenn ihre therapeutischen Bemühungen Erfolge zeigen, "wenn die Teilhabe am sprachlichen Leben möglich ist, mit einer leichten, akzeptierten Sprechunflüssigkeit." Die Akzeptanz des Reststotterns ist dabei unabdingbar, denn im Erwachsenenalter ist Stottern unheilbar. Für eine Therapie ist es trotzdem nie zu spät. "Je früher aber die Behandlung, desto besser die Prognosen", lautet ihr Fazit. (derStandard.at, 15.04.2011)