Spontanrückbildungen sind ein reales - aber seltenes - Phänomen

Foto: IMBA

Markus Horneber: "Es macht wenig Sinn, auf Spontanremissionen zu warten, dafür sind sie viel zu selten"

Foto: privat

Die Arbeitsgruppe Biologische Krebstherapie, eine Forschungsgruppe der Deutschen Krebshilfe an der Onkologie des Nürnberger Klinikums, beschäftigt sich seit 20 Jahren mit der Alternativ- und Komplementärmedizin. Die Mediziner stoßen dabei immer wieder auf Patienten, bei denen sich Tumore scheinbar ohne medizinische Erklärung zurückbilden. Nach einem Patientenaufruf Ende der 1990er-Jahre wurden die Fälle von der Arbeitsgruppe dokumentiert und ausgewertet. Aktuell werden Daten an ein Register in Norwegen weitergeleitet. Marietta Türk spricht mit dem Leiter der Gruppe, Markus Horneber über das reale Phänomen der spontanen Tumorrückbildungen, Fehleinschätzungen und die Konsequenzen für die Krebsforschung.

derStandard.at: Was ist der Unterschied zwischen Spontanheilung und Spontanremission?

Horneber: Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Bei Spontanremissionen bildet sich der Tumor zurück - ohne dass etwas gemacht wurde, was nach heutigen Kenntnissen diese Rückbildung mit sich bringt. Solche spontanen Rückbildungen sind insgesamt sehr selten und unter ihnen gibt es eine noch viel seltenere Untergruppe, bei der der Tumor ganz verschwindet und nicht wieder zurückkommt. Das ist dann eine Spontanheilung - ein außerordentlich seltenes Ereignis.

derStandard.at: Das heißt, es handelt sich um ein reales Phänomen. 

Horneber: Genau, das ist eindeutig nachgewiesen. Um einen solchen Nachweis führen zu können, braucht man eine gesicherte Diagnose und ein Röntgenbild, auf dem man den Durchmesser des Tumors und dessen Rückgang nachweisen kann. 

derStandard.at: Gibt es Krebserkrankungen, bei denen das Phänomen besonders häufig auftritt?

Horneber: Ja, beim frühkindlichen Nervenkrebs, dem Neuroblastom, bilden sich in einer bestimmten Gruppe 90 Prozent der Krebserkrankungen von selbst zurück. Bei den Krebserkrankungen im Erwachsenenalter treten Spontanrückbildungen am häufigsten bei den bösartigen Erkrankungen des Lymphsystems, den Lymphomen auf. Das weiß man, da es bei einigen Lymphomen Zeiten gibt, in denen nicht behandelt wird und in denen Lymphknotengruppen von alleine wieder kleiner werden. Etwa jeder fünfte dieser Patienten hat in seinem Krankheitsverlauf solche Phasen.
Ähnlich ist es bei Melanomen: hier kann es sein, dass der Haupttumor verschwindet, wenn Lymphknotenmetastasen entstehen. Beim Nierenzellkarzinom wurde dagegen beobachtet, dass sich nach der Entfernung der Niere die Lungenmetastasen zurückbilden. Insgesamt gibt es kaum eine Krebsart, bei der nicht auch solche spontanen Rückbildungen dokumentiert sind, aber das sind alles wirkliche Raritäten.

derStandard.at: Das heißt bei einer spontanen Rückbildung ist in weiterer Folge nicht automatisch mit einer Heilung zu rechnen?

Horneber: Nein, so eine Rückbildung von Lymphomen kann eine gewisse Zeit andauern, trotzdem bleibt die Erkrankung da und kann auch an einer anderen Stelle fortschreiten. Das ist dann ein Mischbild zwischen Rückbildung und Fortschreiten der Erkrankung zu gleicher Zeit. 

derStandard.at: Angeblich sind 80 Prozent der berichteten Spontanheilungen nicht haltbar. Welche Fehleinschätzungen können passieren?

Horneber: Es gibt zwei Hauptfehler: entweder die Ursache ist eigentlich die onkologische Behandlung oder es hat gar kein nachgewiesenes Tumorleiden bestanden. 

derStandard.at: Wie kommt es dazu?

Horneber: Es kann sein, dass jemand seine eigenen Handlungen - wie Rauchstopp, Ernährungsumstellung, Entspannungsverfahren oder auch pflanzliche Therapien - als hoch bewertet und die Rückbildung stärker darauf zurückführt als auf die konventionelle onkologische Behandlung, über die nur Ernüchterndes zu hören und lesen war. 

derStandard.at: Gibt es einen Erklärungsansatz für die seltenen bewiesenen Fälle?

Horneber: Es gibt bisher noch keine bündige Wenn-dann-Erklärung. Ich bin aber ziemlich sicher, dass all jene Mechanismen, über die wir in der Krebsforschung diskutieren - wie sich Blutgefäße bilden, wie das Immunsystem reagiert, wie Krebszellen Signale senden und verarbeiten - hierbei eine Rolle spielen. 

Man kann es sich vielleicht, wie eine große Anzahl ungeordneter Zahnräder vorstellen, die sich in einem Moment alle miteinander richtig verzahnen und das Ganze dadurch in Bewegung kommt. So kommen bei einem Menschen mehrere Faktoren zusammen und plötzlich dreht sich das Radwerk Richtung Rückbildung. Das ist nicht ausgeschlossen, aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr klein. Das genaue Zusammenspiel der Faktoren wird aber möglicherweise immer oder noch sehr lange ein Geheimnis bleiben. 

derStandard.at: Können Sie von einem konkreten Fall aus Ihrer Praxis berichten?

Horneber: Wir hatten einen Mann mit weit fortgeschrittenem Lungenkrebs. Es war klar, dass er nicht mehr lange leben wird. Im Herbst hat er den Garten vorbereitet, weil er wollte, dass es seine Frau im Frühling, wenn er nicht mehr da ist, ordentlich hat. Im Frühling hat er sich wieder in den Garten gestellt, weil er für den Sommer vorbereitet werden musste. So ist die Zeit vergangenen und ein Jahr später war er bei uns in der Ambulanz und große Teile des Lungenkarzinoms waren verschwunden. Unseres Wissens hat er gar nicht viel anderes gemacht als das, was ich gerade erzählt habe.

derStandard.at: Es wird immer wieder über Spontanheilungen bei Pilgerfahrten berichtet. Wie erklären Sie das?

Horneber: Hier gilt Ähnliches wie bei den erwähnten Umstellungen im Leben. Jemand führt die Rückbildung auf etwas, das er aus eigener Kraft geschafft hat zurück. Das muss und werde ich respektieren, aber um es dann als Spontanremission bezeichnen zu können, brauche ich die oben erwähnten Nachweise.

derStandard.at: Haben Spontanrückbildungen Konsequenzen für die Krebsforschung? 

Horneber: Nicht unmittelbar, dafür sind sie viel zu selten. Für mich ist all die Forschung in diesem Bereich indirekt auch Forschung des Spontanremissionsphänomens. Je besser wir die Vorgänge der Krebsentstehung verstehen, umso besser werden wir auch die seiner Rückbildung kennen. Dabei berücksichtigen wir auch das Zusammenspiel seelischer und körperlicher Faktoren. Wir wissen ja, dass es seelische Belastungsfaktoren gibt, die einen hemmenden Einfluss auf die Körperkräfte haben und sich dadurch Krankheit über Jahre hinweg entwickeln kann. Diese Zusammenhänge sind beim Krebs jedoch viel unklarer als oft behauptet wird. Die so genannte Krebspersönlichkeit gibt es daher genauso wenig, wie es gesicherte Verhaltensweisen gibt, die zu Spontanremissionen führen.

derStandard.at: Können Patienten und Mediziner irgendwie mithelfen an den erwähnten "Zahnrädchen" zu drehen?

Horneber: Unsere langjährige Erfahrung legt nahe, dass es wenig Sinn macht, auf Spontanremissionen zu warten, dafür sind sie viel zu selten. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass wir möglichst gut die erwähnten "Zahnrädchen" ordnen. Dabei sind die gemeinsame Entscheidung und fachkundige Durchführung der konventionellen Therapie die ersten und wichtigsten Schritte, aber es zählen auch Dinge wie: welche Unterstützung habe ich, wie gehe ich mit Stress während der Behandlung um, wie ernähre ich mich, welche zusätzlichen Behandlungen sind nützlich und wie halte ich meinen Körper in Schwung. Man könnte sagen, dass sich dadurch lauter kleine Spontanremissionskräfte summieren und in der Behandlung zusammen wirken. (derStandard.at, 17.05.2011)