Der Herr des Fliegenhirns: Gero Miesenböck gelang es als erstem Forscher, durch einen Lichtstrahl, also eine künstliche Intervention von außen, einen völlig neuen Inhalt in das Gedächtnis von Taufliegen einzuschreiben und so ihr Verhalten umzuprogrammieren.

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Klaus Taschwer sprach mit ihm über die Möglichkeiten und Risiken seiner Erfindung.

STANDARD: Sie gelten als der eigentliche Erfinder der Optogenetik, einem neuen Ansatz in der Neurobiologie, der Ende 2010 vom Fachblatt „Nature Methods" zur Methode des Jahres gewählt wurde. Was ist denn das so Besondere daran?

Miesenböck: Die Optogenetik ist ein neuer Ansatz, das Rätsel des Gehirns zu verstehen. Ich vergleiche diesen Fortschritt gern mit unterschiedlichen Ansätzen zur Lösung eines Sudoku-Rätsels. Wenn man das Sudoku bloß anstarrt, kommt man schwer auf die Lösung – aber genau das haben die Hirnforscher in den vergangenen hundert Jahren gemacht: Sie haben versucht, aus detaillierten Beobachtungen des Gehirns Schlüsse auf seine Arbeitsweise zu ziehen. Beim Sudoku kommt man aber viel eher auf die Lösung, wenn man an den einzelnen Kästchen herumprobieren kann, wie es funktionieren könnte. Und genau das ist beim Gehirn durch die Optogenetik möglich geworden.

STANDARD: Wie hat man sich das vorzustellen?

Miesenböck: Durch verschiedene Methoden, bei denen man mit Licht die Hirnzellen beeinflusst, kann man erstmals konkret und gezielt in den Informationsfluss und die Signalübertragung eingreifen und testen, welcher Eingriff zu welchem Ergebnis führt. Dadurch kann man natürlich viel besser verstehen, wie die einzelnen Neuronen verschaltet sind und welche Rolle diese Schaltkreise in der Verhaltenssteuerung spielen.

STANDARD: Sie arbeiten mit der Methode, um neue Einblicke in das Gehirn von Taufliegen zu bekommen. Warum immer ausgerechnet Drosophila?

Miesenböck: Nun, Fliegen haben viele praktische Vorteile: Sie sind klein, billig, und vermehren sich schnell.

STANDARD: Ist deren Hirn nicht etwas gar klein und zu einfach gestrickt, um Vergleiche mit dem von höheren Tieren oder gar Menschen zu ziehen?

Miesenböck: Ich würde sagen, das Gehirn ist kompliziert genug, um den Fliegen intelligentes Verhalten zu ermöglichen, und einfach genug, um Forschern intelligente Einsichten in seine Funktion zu ermöglichen. Zu dem Thema gab es eine lange Debatte zwischen Francis Crick, einem der Entdecker der Doppelhelix-Struktur der DNA, und Seymour Benzer, der die Taufliege als neurobiologischen Modellorganismus etablierte. Die beiden stritten sich, ob Fliegen Bewusstsein besitzen. Crick hat das immer geleugnet, während Benzer polemisch meinte: „Francis, die Fliegen können alles, was Du kannst. Und noch mehr: Kannst Du zur Decke fliegen und dort sitzenbleiben?" Ich glaube, diese Polemik enthält zumindest ein Körnchen Wahrheit.

STANDARD: Inwiefern?

Miesenböck: Die Natur erfindet sehr selten zwei völlig unterschiedliche Lösungen für ein und dasselbe Problem. Für mich war die Philosophie daher immer: Such Dir das einfachste System, in dem Du einen biologischen Prozess studieren kannst. Und das ist für meine Fragestellungen eben die Fliege. Wenn wir verstehen, wie Drosophila sich entscheidet und wie sie aus Fehlern lernt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das auch in höheren Lebewesen – und beim Menschen – ähnlich ist.

STANDARD: Wie haben Sie herausgefunden, dass Taufliegen aus Fehlern lernen?

Miesenböck: Wir haben mit Methoden der Optogenetik eine Gruppe von Nervenzellen entdeckt, die, wenn sie aktiviert werden, den Fliegen vermitteln, dass sie einen Fehler gemacht haben. Ich nenne diese Neuronen salopp die „Kritikerzellen" im Fliegengehirn, die quasi sagen: „Mach das nicht noch einmal, probier' etwas anderes." Wir konnten diese Zellen durch einen Lichtstrahl gezielt einschalten und dadurch das Verhalten der Fliege umprogrammieren – mit anderen Worten: durch eine künstliche Intervention von außen einen völlig neuen Inhalt in das Gedächtnis der Fliege einschreiben.

STANDARD: Sie denken, dass diese Mechanismen bei höheren Tieren ähnlich sind?

Miesenböck: Alle Befunde, die wir bis jetzt haben, deuten darauf hin. Und es gibt erstaunliche Details: Wir haben etwa zeigen können, dass Fliegen für schwierige Entscheidungen länger brauchen und die Evidenzen für oder gegen eine Handlung abwägen können. Wenn das so ein kleines Gehirn machen kann, dann heißt das, dass es einen Kurzzeitspeicher für Informationen gibt und Hirnbereiche, wo diese akkumuliert und verglichen werden. Das alles sind fundamentale Prozesse.

STANDARD: Erforschen Sie die auch bei höheren Tieren?

Miesenböck: Wir haben kürzlich eine Arbeit veröffentlicht, für die wir auch Mäuse ins Gehirn blickten. Da sind wir der Frage nachgegangen, warum in der Großhirnrinde ganz verschiedenen Areale, die visuelle, akustische, motorische oder auch ganz andere Reize verarbeiten, erstaunlich ähnlich sind. Wir haben verschiedene Hirnzellen durch Licht angeregt und gefunden, dass es tatsächlich so etwas wie einen kanonischen Schaltkreis in der Großhirnrinde gibt bzw. kanonische Rechenvorgänge.

STANDARD: Wie genau kann man diese Schaltkreise bereits beschreiben?

Miesenböck: Die Verdrahtungsmuster, wie wir sie jetzt kennen, sind immer noch ziemlich grob. Die Großhirnrinde hat sechs Schichten und wir wissen, dass die Signale in der vierten Schicht ankommen und zur zweiten oder dritten weiterwandern und vor dort zur fünften. Aber wie die einzelnen Verdrahtungen im Detail ausschauen, das muss noch erforscht werden.

STANDARD: Tauschen Sie sich darüber auch mit Kognitionspsychologen aus?

Miesenböck: In meinem neuen Forschungszentrum in Oxford, das gerade entsteht, versuchen wir genau das. Und ich glaube, dass diese Ergänzung von kognitiver Neurobiologie und mechanistischer Neurobiologie sehr fruchtbar wird, weil sie hilft, die wechselseitigen Frustrationen zu lindern. Viele Kognitionspsychologen – zumindest die besseren – sind frustriert, weil sie nicht verstehen, was im Gehirn wirklich vorgeht. Das bleibt immer bis zu einem gewissen Grad eine Black box. Wir mechanistischen Neurobiologen sind frustriert, weil uns der große theoretische Wurf fehlt. Und das schadet uns auch.

STANDARD: Ist unser Gehirn für solche Theorien womöglich auch zu komplex?

Miesenböck: Ich glaube nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unser Gehirn wie ein undurchschaubares Sammelsurium ganz verschiedener Schaltmuster konstruiert ist. Ich glaube eher, dass es 50, 100 vielleicht 200 Einzelbausteine gibt, die in verschiedenen Gehirnen ähnlich konstruiert sind und ähnliche Rechenoperationen ausführen: zum Beispiel einen Oszillator, der Zeit misst, Schaltkreise, die Informationen vergleichen oder über bestimmte Zeitintervalle integrieren, oder adressierbare Informationsspeicher. Wenn man diese Bausteine finden und verstehen könnte, dann wäre das ein großer Fortschritt.

STANDARD: Sind Ihre Forschungen auch praktisch anwendbar?

Miesenböck: Für eine rationelle Medizin, die auf dem Verstehen biologischer Mechanismen beruht, ist diese Art von Grundlagenforschung jedenfalls unentbehrlich.

STANDARD: Mittlerweile werden optogenetische Methoden im Tierversuch auch schon zur Heilung von Krankheiten wie Epilepsie getestet. Wie weit ist es noch bis zur Anwendung beim Menschen?

Miesenböck: Ich denke, dass es in den nächsten Jahren noch keine Anwendungen geben wird. Die größte Hürde ist dabei nicht die Beeinflussung des Gehirns. Ein Glas Wein am Abend ist ja auch eine Form der Bewusstseinsbeeinflussung. Das Problem liegt darin, genetisches Material in den Menschen einzuschleusen – was eine Voraussetzung wäre, um Optogenetik auf diese Weise anzuwenden. Das ist eine Form der Gentherapie, die vielfältige Probleme hat.

STANDARD: Werden sich die lösen lassen?

Miesenböck: Im Moment gibt es jedenfalls zu viele Gründe, die dagegen sprechen. Die Technologie, ein defektes Gen zielgenau durch ein gesundes zu ersetzen, ist noch lange nicht weit genug, damit das auch sicher und ohne Risiken funktioniert. Wenn wir Gene ins Genom von Taufliegen einschleusen, kommt es manchmal vor, dass dadurch ein essentielles Gen kaputtgeht.

STANDARD: Woran liegt das?

Miesenböck: Man muss sich das so vorstellen, als ob man mit einer Schrotflinte auf das Genom schießen würde. Das Genom besteht zum Grossteil aus Dingen, wo ein Treffer keine allzu dramatische Konsequenzen hat, aber in einem kleinen Prozentsatz sind die Nebenwirkungen katastrophal. Für die Methode spricht natürlich, dass der Ersatz eines defekten Gens die ideale Therapie wäre.

STANDARD: Gerade erst in den vergangenen Monaten sind einige führende britische Neurowissenschafter nach Nordamerika übersiedelt. Wie sind Ihre Arbeitsbedingungen in Oxford?

Miesenböck: Meine Situation als Forscher in Großbritannien ist sehr gut. Ich habe eine große Förderung vom Wellcome Trust an Land gezogen und bekomme für mein neues Institut zehn Millionen Pfund aus der Stiftung von Lord Sainsbury, einem früheren Wissenschaftsminister und Supermarktkettenbesitzer, dessen großes Interesse der neurobiologischen Grundlagenforschung gilt.

STANDARD: Was machen Sie mit dem ganzen Geld?

Miesenböck: Wir sind jetzt dabei ein Forschungsinstitut zu gründen, dessen Direktor ich sein werde und das Centre for Neural Circuits and Behaviour heißt. Das Institut wird auch von der Universität Oxford großzügig mit Infrastruktur unterstützt: Wir haben ein Gebäude gekriegt, das gerade renoviert wird und in dem wir dann auch ein kleines soziales Experiment machen wollen.

STANDARD: Und zwar?

Miesenböck: Ich will es so einrichten, dass Gruppen aus verschiedenen Gebieten auf sehr engem Raum zusammenarbeiten. Ich glaube, dass die hohe Personendichte wichtig ist, damit Wissenschaft gut funktioniert. Man muss wirklich aufeinander picken, dann geht es am besten. Und es wird auch keine Grenzen mehr zwischen den Labors geben. Alles soll in diesem Institut transparent und offen sein.

STANDARD: Sie waren vor Oxford auch an der US-Eliteuni Yale. Worin sehen Sie die größten Unterschiede zwischen dem angloamerikanischen und dem kontinentaleuropäischen Forschungssystem?

Miesenböck: Der größte Unterschied besteht für mich darin, dass die Forschungsgruppen im angloamerikanischen Raum nicht mit Hausmitteln der Universität dotiert sind. Mir wurde und wird gerade einmal mein eigenes Gehalt bezahlt. Aber das ist es dann schon auch. Ich habe also nicht 15 Uni-Stellen für Post-Docs, die ich vergeben kann, sondern muss mich für jede einzelne Stelle über Förderungsanträge um Drittmittel bemühen. Und ich denke, dass das ein gutes System ist, weil es einen wach hält. Unser Institut ist so organisiert, dass die Etablierten durch die eingeworbenen Drittmittel junge Forscher in ihren ersten Schritten in die Unabhängigkeit unterstützen. Und wenn die Nachwuchsforscher sich erfolgreich etabliert haben, dreht sich das Rad auf's Neue. Das System verjüngt sich dadurch ständig. Es ist aber keine Drehtür, die erfolgreiche Nachwuchsforscher nach einer bestimmten Zeit automatisch wieder auf die Straße setzt.

STANDARD: Gibt es auch Nachteile?

Miesenböck: Es gibt im angloamerikanischen Raum die Tendenz, die Forschungsförderung immer stärker an der Anwendung auszurichten. Mittlerweile ist es so, dass eines der Kriterien für staatliche Drittmittel in Großbritannien darin besteht, dass die Forschung dem wirtschaftlichen Wohlergehen des Landes dient. Da geht es dann auch wirklich um die Abgabe von Patenten und Lizenzen.

STANDARD: Beim Wellcome-Trust ist das aber noch nicht so?

Miesenböck: Nein, aber der stellt seine eigenen Förderprinzipien auch gerade um. Während man dort früher auch kleine Anträge unterstützte, will man jetzt versuchen, weniger Leuten mehr Geld zu geben. Das ist natürlich gut für die Einrichtungen, die exzellent sind. Aber viele Unis und Institute zittern jetzt natürlich ganz gewaltig, und es besteht natürlich das Risiko, dass Forschung, die solide und wichtig, aber vielleicht nicht spektakulär ist, unter den Tisch fällt. Damit wäre dem ganzen Forschungsbetrieb der Boden entzogen.

STANDARD: Das wäre also die forschungspolitische Umsetzung des Matthäus-Prinzips: "Wer hat, dem wird gegeben."

Miesenböck: Genau. Oder auf gut Oberösterreichisch: "Der Teufel scheißt zum größten Haufen." (DER STANDARD, Printausgabe, 15.06.2011)