Slavoj Zizek: "Wir sind keine Träumer, wir sind aufgewacht!"

Foto: Standard/Urban

Bild nicht mehr verfügbar.

Protestalltag in New York: Ein Wall-Street-Besetzer setzt seine Unterschrift auf eine riesige Kopie der amerikanischen Verfassung.

Foto: AFP/Samad

Verliebt Euch nicht in Euch selbst, in die nette Zeit, die wir hier zusammen verbringen. Karneval-Feste sind billig, ihren wirklichen Wert kann man erst am nächsten Tag an den Veränderungen unserer alltäglichen Normalität erkennen. Verliebt Euch in harte und geduldige Arbeit - wir sind der Anfang, nicht das Ende. Unsere zentrale Botschaft lautet: Das Tabu ist gebrochen, wir leben nicht in der bestmöglichen Welt, wir dürfen, ja müssen sogar über Alternativen nachdenken. Es liegt noch ein weiter Weg vor uns, und wir werden uns schwierige Fragen stellen müssen - nicht über das, wogegen wir sind, sondern über das Wofür. Welche soziale Organisation kann den real existierenden Kapitalismus ersetzen? Welche neue Art von politischer Führung brauchen wir? Die Alternativen des 20. Jahrhunderts haben offensichtlich nicht funktioniert.

Also klagt nicht Leute und ihre Verhaltensweisen an; Das Problem ist nicht die Korruption oder die Gier, das Problem ist das System, das uns dazu treibt, korrupt zu werden. Die Lösung heißt nicht "Main Street statt Wall Street" , sondern wir müssen das System verändern, das darauf beruht, dass die Main Street nicht ohne die Wall Street funktionieren kann. Hütet Euch nicht nur vor Feinden, sondern auch vor falschen Freunden, die vorgeben, uns unterstützen zu wollen, während sie bereits emsig daran werken, unseren Protest zum Schweigen zu bringen.

Sie werden sagen, dass wir antiamerikanisch sind. Aber wenn uns konservative Fundamentalisten erklären, dass Amerika eine christliche Nation ist, sollten wir sie vielleicht daran erinnern, was das Christentum ausmacht: der Heilige Geist, die freie, egalitäre Gemeinschaft von Gläubigen, verbunden über das Band der Liebe. Wir sind der Heilige Geist, während die Wall-Street-Herren wie Heiden agieren, die falsche Götzen anbeten.

Sie werden sagen, dass wir gewalttätig sind - "Okkupation" und so. Ja, wir sind gewalttätig, aber nur im Sinne von Mahatma Gandhi. Wir agieren gewaltsam, weil wir nicht wollen, dass die Dinge so weiterlaufen wie bisher. Was aber ist diese rein symbolische Gewalt, verglichen mit jener, die man benötigt, um die Funktionsweise des globalen kapitalistischen Systems zu ertragen?

Wir werden Verlierer genannt, aber sind die wahren Verlierer nicht hier an der Wall Street, die gerade mit hunderten Milliarden von Eurem Geld gerettet wurden? Sie nennen Euch Sozialisten - aber in den USA gibt es bereits einen Sozialismus der Reichen. Sie sagen, dass Ihr nicht das Recht auf Privateigentum respektiert - aber durch die Wall-Street-Spekulationen, die zum Crash 2008 geführt haben, wurde hart erarbeitetes Privateigentum vernichtet, als wir das an dieser Stelle je tun könnten - man denke nur an die tausenden verpfändeten Häuser.

Wir sind keine Kommunisten - jedenfalls keine von denen, deren System 1990 verdientermaßen zusammengekracht ist - und vergessen wir nicht, dass die Kommunisten, die heute noch an der Macht sind, das rücksichtsloseste kapitalistische System betreiben (in China). Der Erfolg des von Kommunisten betriebenen Kapitalismus ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Ehe von Kapitalismus und Demokratie vor der Scheidung steht. Das einzig Kommunistische an uns ist unsere Sorge um das Gemeinwohl.

Sie werden sagen, dass Ihr Träumer seid, aber die wirklichen Träumer sind die, die glauben, dass alles endlos so weiter gehen kann wie bisher - nur mit ein paar kosmetischen Veränderungen. Wir sind keine Träumer, wir sind die, die aus einem Traum erwachen, der sich längst in einen Alptraum verwandelt hat. Wir zerstören nichts, wir sind nur Zeuge, wie das System sich nach und nach selbst zerstört. Wir alle kennen die klassische Comic-Situation: Die Katze erreicht den Abgrund, aber sie marschiert weiter, ohne sich drum zu kümmern, dass unter ihren Pfoten kein Grund mehr ist, und sie stürzt nur ab, wenn sie nach unten blickt. Wir tun nichts anderes, als die Herrschenden daran zu erinnern, nach unten zu blicken.

Ist also "Change" wirklich machbar? Heutzutage sind das Mögliche und das Unmögliche auf seltsame Weise verteilt. Im Bereich der individuellen Freiheit und der Technologie machen wir das Unmögliche möglich (sagt man uns jedenfalls): Wir können Sex in allen Spielarten der Perversion genießen, ganze Archive von Musik und Filmen downloaden, selbst Ausflüge ins All sind für jeden machbar (so man über das nötige Geld verfügt). Wir können auch unsere physischen und psychischen Fähigkeiten durch Eingriffe in die Genstruktur erweitern - bis hin zum Traum von der Unsterblichkeit mittels Transformation unserer Identität in ein Softwareprogramm.

Gleichzeitig werden wir im Bereich der sozialen und ökonomischen Beziehungen andauernd mit einem "Geht nicht" , "Kann man nicht" bombardiert. - Vielleicht ist es nun an der Zeit, die Koordinaten im Verhältnis zwischen Möglichem und Unmöglichem umzukehren. Vielleicht können wir dann zwar nicht unsterblich werden, dafür aber mehr Solidarität und Krankenpflege kriegen?

Im April 2011 berichteten die Medien, dass Chinas Regierung Fantasy- und Science-Fiction-Filme verboten hat, weil das ernsthafte historische Angelegenheiten gefährlich frivolisiere. Hier im freien Westen bedarf es solcher Verbote nicht. Die Ideologie erzeugt genug materielle Kraft, um uns vor unerwünschten Abweichungen im Umgang mit der Realität zu bewahren. So können wir uns etwa mühelos das Ende der Welt vorstellen - siehe die zahllosen Apokalypse-Filme - nicht aber das Ende des Kapitalismus.

In einem alten Witz aus der ehemaligen DDR bekommt ein deutscher Arbeiter einen Job in Sibirien. Der Mann ist natürlich besorgt, dass seine Post von Zensoren gelesen wird, und macht seinen Freunden daher einen Vorschlag: Vereinbaren wir einfach einen Code: Wenn ein Brief von mir in blauer Tinte geschrieben ist, ist er echt, wenn die Schrift rot ist, ist er falsch.

Einen Monat später erhalten seine Freunde den ersten Brief in blauer Schrift: Alles wunderbar hier, das Essen ist ausgezeichnet, die Geschäfte sind voll, die Appartements geräumig und gut geheizt, die Kinos zeigen alle Filme aus dem Westen und es gibt jede Menge hübscher Mädchen, die sich gern auf ein Verhältnis einlassen - das einzige, was man nicht bekommt, ist rote Tinte.

Entspricht das nicht genau der Situation, in der wir heute leben? Wir haben alle nur vorstellbaren Freiheiten, nur keine rote Tinte. Wir fühlen uns frei, weil es uns an der Sprache fehlt, um unsere Unfreiheit auszudrücken. Was dieses Fehlen der roten Tinte bedeutet, ist, dass all die gängigen Worte, die benennen sollen, worum es in den aktuellen Konflikten geht - "Krieg gegen Terror", "Demokratie und Freiheit", "Menschenrechte" etc. - schlicht falsch sind, und nur dazu dienen, die Realität zu verschleiern. Ihr hier gebt uns allen rote Tinte. (Dokumentation: Sarah Shin; Übersetzung: Mischa Jäger; DER STANDARD; Print-Ausgabe, 15.10.2011)