Vor den Kopf gestoßen könnte die Gebirgstaufliege Drosophila nigrosparsa sein, wenn sich das Klima weiter erwärmt.

Foto: Thomas Dejaco

Mithilfe alpiner Insekten simulieren die Wissenschafter eine Erwärmung im Zeitraffer.

Ein Berghang irgendwo in Tirol, im Sommer: Die Sonne scheint, eine leichte Brise streicht über Gras und Wildblumen. Überall summen Insekten. Am Rande der Wiese stehen einige Lärchen, darunter Heidelbeerbüsche. Geschlossenen Waldwuchs gibt es hier oben, in etwa 2000 Meter Höhe, nicht mehr.

"Das ist die sogenannte Kampfzone", erklärt der Biologe Florian Steiner und meint den Bereich nahe der Baumgrenze – ein schwieriger Lebensraum. Die mikroklimatischen Bedingungen können auf engstem Raum enorm variieren. In Tirol nimmt die Durchschnittstemperatur pro 100 Höhenmeter um 0,64 Grad ab, sagt Steiner. Für die am Hang lebenden Pflanzen- und Tierarten sei das "eine enorme Herausforderung."

Doch diese haben zahlreiche Spezies im Laufe ihrer Evolution bestens gemeistert. Eine beeindruckende Vielfalt ist das Ergebnis, nicht nur in Europa. "Berge bedecken ein Viertel der Landoberfläche der Erde und sind echte Biodiversitätshotspots", schwärmt Steiner. Dieser Reichtum ist allerdings bedroht. Der Klimawandel verändert die ökologischen Rahmenbedingungen, und die Alpen sind davon bereits betroffen. Florian Steiner, der am Institut für Ökologie der Universität Innsbruck tätig ist, beobachtet die Entwicklungen aufmerksam. Seit 1850 ist die Temperatur auf der Nordhemisphäre der Erde um ein Grad gestiegen, in den Alpen aber doppelt so viel, so der Forscher. Tendenz weiterhin steigend. "Die Worst-Case-Szenarien sagen sogar eine Erwärmung von sechs Grad bis 2085 voraus."

Rückzug in hohe Lagen

Für die Tier- und Pflanzenwelt könnten die Folgen gravierend sein. Viele Arten sind an kühle Bedingungen angepasst. Wird es wärmer, dann müssen sie in größere Höhen ausweichen. Experten sprechen von der "Gipfelfalle". Da sich Berge zuspitzen, nimmt der Lebensraum oben in der Fläche ab. Es steht schlichtweg weniger Platz zur Verfügung. Abgesehen davon ändert sich auch das Angebot an Ressourcen, und die Isolation nimmt zu. Dadurch riskieren Populationen, die sich in Gipfelregionen zurückziehen, irgendwann zu erlöschen.

Es gibt jedoch Alternativen, betont Steiner. Die von der Erwärmung betroffenen Spezies können ihr Verhalten ändern, oder sie passen sich genetisch an. Letzteres ist klassische Evolution, die unter Umständen erstaunlich schnell verlaufen kann. Steiner und seine Kollegen wollen nun anhand eines besonderen Modellorganismus untersuchen, wie rasch sich der Evolutionsprozess unter dem Druck einer rapiden Erwärmung bei alpinen Insekten entfaltet.

Drosophila nigrosparsa ist eine kälteliebende Taufliegenart. Sie kommt bevorzugt in Höhen von circa 2000 Metern vor und pflanzt sich jährlich nur in einer Generation fort. Hauptflugzeit ist der August. Während des Mittags verstecken sich die Tiere allerdings im Schatten, berichtet Steiner. Erst ab etwa 17 Uhr werden sie aktiv. Die genauen Ursachen dafür sind noch unklar. Verträgt D. nigrosparsa aus physiologischen Gründen keine Wärme, oder sind andere biologische Faktoren am Werke? Sicher ist: Die Art kommt in milderen Bereichen unterhalb von 1500 Metern gar nicht vor. Sie sollte also zukünftig vom Klimawandel betroffen sein.

Um zu klären, wie sie darauf reagieren werden, wollen die Innsbrucker Forscher zusammen mit Kollegen aus Österreich, der Schweiz und Australien zunächst das Erbgut von D. nigrosparsa komplett entschlüsseln. Danach wird das Team die Taufliegen über zehn Generationen lang im Labor bei simulierten Temperaturregimes mit Klimaerwärmung züchten. Dabei sollten bestimmte Selektionsmechanismen greifen können. Die resultierenden Zuchtlinien würden eine Evolutionsdauer von zehn Jahren in freier Natur widerspiegeln. "Wir versuchen, die Zeit ein bisserl zu komprimieren", sagt Steiner.

Dank modernster molekulargenetischer Methoden ist es heute möglich, sogar das Genom einzelner Taufliegen exakt zu sequenzieren. So werden die Wissenschafter sämtliche Chromosomen der unter warmen Bedingungen gezüchteten Selektionslinien unter die Lupe nehmen und deren Codes mit jenen der Urformen von D. nigrosparsa vergleichen. "Dort, wo es Änderungen gibt, sind mutmaßliche Selektionssignaturen", sagt Florian Steiner. Mögliche Zeugnisse von Evolution im Zeitraffertempo.

Vom Labor ins Gelände

Es gibt aber noch mehr zu berücksichtigen. Wenn die Gebirgstaufliegen tatsächlich in der Lage sein sollten, sich genetisch an die Klimaerwärmung anzupassen, was sind dann die eventuellen Kosten? Sind die adaptierten Tiere womöglich weniger fruchtbar, weniger kälte- oder hungerresistent, oder als Larven weniger konkurrenzfähig gegenüber dem Nachwuchs anderer Spezies, die sich als Maden in derselben Nahrung tummeln?

Nach Abschluss der ersten Serie von Laborversuchen wollen die Innsbrucker Biologen deshalb auch Käfigexperimente im Gelände durchführen. Dabei soll sich zeigen, ob die Zuchttiere nach zehn Generationen Wärmeadaption bei der Futtersuche unter Realbedingungen aktiver sind als Artgenossen, die nicht bei erhöhten Temperaturen gezüchtet wurden.

Das Projekt, welches vom österreichischen Forschungsfonds FWF finanziell unterstützt wird, ist das erste seiner Art weltweit. Die Wissenschafter erhoffen sich von den Ergebnissen nicht nur grundlegende Einblicke in die Mechanismen von Evolution und Klimaanpassung. Es geht auch darum, bessere Strategien für den Schutz alpiner Arten entwickeln zu können, meint Florian Steiner. (DER STANDARD, Printausgabe, 14.12.2011)