Ausgerechnet in der irakischen Autonomen Region Kurdistan, die sich im Vergleich mit dem konfliktgeschüttelten arabischen Teil des Landes in den Jahren seit 2003 einen Ruf als Oase des Friedens erworben hat, gibt es seit Anfang Dezember Unruhen mit einer religiösen Komponente. Offenbar nach Hetzreden in einer oder mehreren Moscheen in der Stadt Zakho nahe der türkischen Grenze war am 2. Dezember der Mob losgezogen und hatte als "unislamisch" gebrandmarkte Unternehmen von Christen und von Angehörigen der religiösen Minderheit der Yeziden attackiert und angezündet, laut "Kurd Net" 30 Alkoholgeschäfte, vier Massagezentren und drei Hotels. Dabei wurden mehr als dreißig Menschen verletzt. Auch in Dohuk und Simel kam es zu ähnlichen Vorfällen. Am 12. Dezember rief sogar die Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen in einer Aussendung die kurdischen Behörden auf, gegen die religiöse Hetze – die von 18 islamischen Privatschulen ausgehe – vorzugehen. Zwei Tage später meldete die Nachrichtenagentur Kurdpress, dass in der Stadt Rania eine solche religiöse Schule in Brand gesteckt wurde.

Politisch stellt sich der Konflikt dar als Auseinandersetzung zwischen der KIU (Kurdistan Islamic Union), die hinter den Ausschreitungen gegen die religiösen Minderheiten stehen soll, und der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) von Präsident Massud Barzani. Als die KDP nach den Angriffen in Zakho zu Gegendemonstrationen aufrief, endeten diese ihrerseits damit, dass die Büros der KIU in Zakho und anderen Städten zerstört wurden. Das führte wieder zu – nicht offiziell genehmigten – Proteste der KIU in Erbil und Sulaymaniya. Seitdem versuchen die beiden Parteien – die im nationalen irakischen Parlament in Bagdad Bündnispartner sind – auf einen grünen Zweig zu kommen, es gelingt aber bisher nicht. Ein Versöhnungsgespräch am Sonntag wurde von den Islamisten boykottiert, offenbar weil noch nicht alle ihrer Dutzenden Verhafteten freigelassen wurden.

Dass böses Blut zwischen der KIU und der KDP fließt, kam auch früher schon einmal vor. 2005, als sich die KIU vor den ersten regulären Parlamentswahlen im Irak aus der Allianz mit den großen Kurdenparteien KDP und PUK (Patriotische Union Kurdistan) zurückzog, kamen bei Auseinandersetzungen sogar mehrere KIU-Mitglieder ums Leben. Im heurigen Jahr haben sich die Beziehungen zwischen den beiden Parteien kontinuierlich verschlechtert, nachdem sich die KIU der kurdischen Oppositionspartei Gorran bei Protesten gegen die kurdische Regionalregierung (Premier ist momentan noch der PUK-Politiker Barham Salih) im Stile des Arabischen Frühling angeschlossen hatte. Die KIU beschuldigt nun die KDP, selbst hinter der Hetze gegen die Christen und Yaziden zu stehen, um leichter gegen die islamistische Opposition vorgehen zu können. Wie üblich wird aber auch mit dem Finger auf andere Beschuldigte gezeigt, den Iran, die Türkei und Syrien, die allesamt die Unruhen angestachelt haben sollen.

Für Kurdistan ist es tragisch, dass sich der politische Konflikt religiös niederschlägt. Gerade hier haben Tausende Christen, aber auch Angehörige anderer religiöser Minderheiten Zuflucht vor dem wachsenden islamistischen Druck im arabischen Irak gesucht und gefunden. Viele konnten sich eine neue Existenz aufbauen. Die Gesellschaft für bedrohte Völker bezeichnet die Minderheitenpolitik der Regionalregierung in Erbil als beispielgebend. Weniger gut hat diese jedoch den Umgang mit der politischen Opposition im Griff. Obwohl die KDP nach den Vorfällen von 2005 für die Entschädigung der betroffenen Familien und die Wiederinstandsetzung der zerstörten KIU-Einrichtungen sorgte, hat ein wirklicher Dialog nicht stattgefunden, die Spannungen wurden nur eingefroren, nicht gelöst.

Die Kurdistan Islamic Union ist eine den Muslimbrüdern nahestehende Partei, die in den 1990er Jahren gegründet wurde, als die kurdischen Gebieten nach der administrativen und faktischen Trennung von Bagdad ihre eigene politische Entwicklung nahmen. Gesamtirakisch gesehen ist sie zwar eine sehr kleine Partei, aber die vier Sitze, die sie im Parlament in Bagdad hat, sind aufgerechnet auf die 43 der Kurdistan-Allianz von KDP und PUK nicht so schlecht. Eine weitere islamische Partei, die Islamische Gruppe, hat zwei Sitze. Die Islamisten sind also eine ernsthafte Opposition – wenn auch hinter der 2009 gegründeten Partei Gorran, die auf Anhieb 8 Mandate errang und ihr Programm im Namen trägt: Change. Mit ihrem Anspruch, das Machtmonopol der beiden großen tribalen Parteien KDP und PUK (die historisch eine KDP-Abspaltung ist) zu brechen, sorgen sie für große Nervosität im kurdischen Establishment. Denn im kurdischen Parlament hat Gorran 25 von 111 Sitzen.

Wenngleich als Minderheitenprogramm, so hat der politische Islam in Kurdistan durchaus eine Tradition. 1979 wurde die "Islamische Bewegung" gegründet, die bei den ersten freien Wahlen in Kurdistan 1992 mehr als fünf Prozent erreichte. Ausgerechnet im vom Irak Saddams abgespaltenen Kurdistan hatte übrigens auch die einzige der Al-Kaida affiliierte Gruppe eine sichtbare Niederlassung: Anfang der 2000er Jahre etablierten die radikalen Ansar al-Islam in einem von ihnen kontrollierten Gebiet bei Halabja so etwas wie einen islamischen Ministaat. Er wurde 2003 ausradiert – einige der Mitglieder schlossen sich jedoch dem Kampf der radikalen Islamisten rund um den Al-Kaida-Mann Abu Musab al-Zarkawi gegen die US-Armee und die neue politische Elite im Irak an. (Gudrun Harrer, derStandard.at, 14.12.2011)