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Aus ihrer Sicht handeln die griechischen Gewerkschaften völlig rational, wenn sie den Sparkurs der Regierung sabotieren - auch wenn das Land dabei zugrunde geht.

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In der Schwarzenegger-Ehe zersetzte Arnies Seitensprung das fragile Geflecht der Gegenseitigkeit.

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In Mafiaclans funktioniert das Prinzip der Kooperation hingegen klaglos: Man vertraut einander, und wer auspackt, wird umgelegt.

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Jim und Tom wollten gerade auf den Highway auffahren, als sie von einer Polizeistreife gestoppt wurden. Auf dem Rücksitz erblickte der Cop zwei Pistolen, die ganz offensichtlich illegal waren. Er nahm die beiden auf die Polizeistation mit. Dort interessierte Sheriff Eddie O'Flynns vor allem eines: Waren das die Männer, die vor zwei Tagen im Nachbarort die Bank ausgeraubt hatten? Der Sheriff hatte einen starken Verdacht, aber keine Beweise.

O'Flynns setzte Jim und Tom in zwei getrennte Zellen und begann mit seiner bewährten Verhörmethode: "Hör mir einmal zu, Buddy. Wir haben dich mit illegalen Waffen erwischt und können dich und deinen Freund auf jeden Fall für ein Jahr verknacken. Aber wir glauben, dass ihr auch die Bank ausgeraubt habt. Wenn du gestehst und dein Kumpan schweigt, lassen wir dich gehen, und er kriegt zehn Jahre." "Und wenn wir beide gestehen? ", fragt Jim. "Dann kriegt ihr beide vier Jahre." Jim dachte kurz nach.

Er wusste nicht, ob Tom dichthalten würde. Wenn dieser singt, dann wäre es wohl besser, wenn auch er gesteht. Und wenn er schweigt? "Dann gehe ich frei, wenn ich rede." Für Jim ist es klar: Reden ist immer besser als Schweigen. Und auch Tom kommt zum gleichen Schluss: Sie gestehen beide und werden gleichermaßen zu vier Jahren verurteilt.

Sheriff O'Flynns ist zufrieden. Wieder einmal hat er einen schwierigen Fall rasch gelöst. Und innerlich lacht er über die Ganoven: Hätten Jim und Tom geschwiegen, dann wären sie mit einem Jahr Haft davongekommen.

Drei Mathematiker

Diese Geschichte stammt nicht aus der Feder eines Krimiautors, sondern wurde 1950 von drei amerikanischen Mathematikern geschaffen. Merrill Flood, Melvin Dresher und Albert W. Tucker arbeiteten im jungen Gebiet der Spieltheorie und wollten mit ihrem "Gefangenendilemma" damit zeigen, warum Menschen manchmal nicht kooperieren, obwohl es eigentlich in ihrem Interesse läge. Die Spieltheorie diente zunächst dazu, die Dynamik der nuklearen Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion zu verstehen. Aber sie fand rasch Anwendung in der Ökonomie, der Psychologie und vielen anderen Gebieten. Dabei wechselte das Interesse bald von Nullsummenspielen, in denen es nur entgegengesetzte Interessen gibt, zu Situationen, in denen Konflikt und Gemeinsamkeit sich vermengen.

Vor allem das Gefangenendilemma hat sich als mehr denn nur ein mathematisch-strategisches Gedankenexperiment erwiesen. Es ist eine Art sozialwissenschaftlicher Weltformel, die fast alles erklärt, was zwischen Menschen (und sogar anderen Lebewesen) vorgeht. Denn es erfasst die immanente Spannung zwischen individuellen und kollektiven Interessen - das Grundproblem und die zentrale Herausforderung der menschlichen Zivilisation.

Wenn es um Krieg und Frieden geht, um gesellschaftliche Solidarität, Gesetzestreue, Steuermoral oder das Leben in einer Ehe - stets sind Gefangenendilemmata im Spiel, die sich, wie der Name sagt, nicht einfach lösen lassen.

Es reicht nämlich nicht aus, dass Jim davon überzeugt wird, dass Tom schweigen wird. Selbst dann würde er aus rein rationalen Überlegungen den vorteilhafteren Weg des Egoismus wählen. Und weil Tom das weiß, wird auch er auf seine Interessen schauen und nicht kooperieren.

Selbst wenn Zusammenarbeit einmal gelingt - zwischen Staa-ten, Unternehmen oder Einzelpersonen - ist dieser Zustand nie stabil. Die Verlockung, abzuspringen und dem anderen in den Rücken zu fallen, ist immer präsent.

Der Mathematiker und Wirtschaftsnobelpreisträger John Nash, bekannt aus dem Film A Beautiful Mind (Genie und Wahnsinn), hat dies in komplexen mathematischen Formeln eingefangen: Ein stabiles Nash-Äquilibrium, also ein Zustand, in dem es sich kein Spieler allein verbessern kann, ist im Gefangenendilemma immer nur dann vorhanden, wenn nicht kooperiert wird.

Sind mehr Spieler beteiligt, dann wächst der Anreiz für alle, für sich selbst zu sorgen und das Gemeinschaftswohl zu ignorieren. Das wird Trittbrettfahrertum genannt - und ist ein völlig rationales, aber auch destruktives Verhalten, das sich in großen Gruppen als fast unvermeidlich erweist.

Nützliche Wiederholungen

Aber wenn Menschen so egoistisch agieren, wie kann Zusammenarbeit doch gelingen? Die Spieltheorie sieht mehrere Möglichkeiten: Bei wiederholten Begegnungen der gleichen Akteure steigt ihr Anreiz zu kooperieren. Denn der Verzicht auf den kurzfristigen Eigennutzen wird zu einer Investition in die Zukunft. Deshalb wird man als Stammkunde in seinem Nachbarschaftsgeschäft kaum übers Ohr gehauen - als Tourist in einer fremden Stadt, in die man nie wieder kommt, aber schon.

Aber auch bei vielen Wiederholungen ist die Kooperation nie garantiert, vor allem wenn die Spieler einander nicht ganz trauen. Gefährlich wird es vor allem dann, wenn die Kooperation zu einem absehbaren Ende kommt: In einer letzten Runde haben beide Seiten einen starken Anreiz, den Weg der Kooperation zu verlassen und sich den größtmöglichen Vorteil zu holen.

Der effektivste Weg zur Lösung des Gefangenendilemmas heißt Vertrauen - tiefes Vertrauen. In einfachen Gesellschaften - und das gilt auch heute für die meisten Staaten Afrikas oder der arabischen Welt - ist ein solches Vertrauen ausschließlich innerhalb von Familien und Clans zu finden. Nur moderne, fortschrittliche Gesellschaften bringen jene soziale Normen hervor, die es ermöglichen, dass man sich auch auf Fremde verlassen kann.

Damit Kooperation funktioniert, bedarf es aber stets auch eines zweiten Faktors: der Angst vor schmerzhaften Strafen, wenn man nicht kooperiert. Darin steckt das Erfolgsrezept von Mafiaclans: Die Mitglieder sind meist miteinander verwandt (wirklich oder symbolisch). Und sie wissen, dass sie umgelegt werden, wenn sie auspacken oder der Familie auf andere Weise schaden. Unter solchen Umständen kann "omertà" tatsächlich funktionieren.

Kontrolle und Vertrauen

Auch ein funktionierender Rechtsstaat basiert auf der Doppelfunktion von Kontrolle und Vertrauen: Ohne das Gewaltmonopol, das etwa Thomas Hobbes in seinem Werk Leviathan verlangt, versinkt die Gesellschaft in die Anarchie. Aber wenn Gesetzestreue nur durch ständige Strafverfolgung erzielt werden kann, wie das etwa in Diktaturen üblich ist, dann frisst der Staatsapparat viel zu viele Ressourcen auf und wird dennoch nie echte Kooperation erzielen. Eine solche Gesellschaft kann auch wirtschaftlich nicht prosperieren. Nur wenn die Bürger bereit sind, von sich aus die Gesetze einzuhalten und sich dabei darauf verlassen, dass auch die anderen das tun, entsteht eine freie, lebenswerte und wohlhabende Gemeinschaft.

Dort, wo diese Kultur des Zusammenhaltens fehlt, weil sich die Menschen nicht als Teil eines Ganzen sehen, hält niemand die Straßen sauber. Dann lässt sich jeder Beamte bestechen, weil er weiß, dass es auch die Kollegen so tun. Dann zahlen normale Bürger möglichst keine Steuern, weil sie nicht die Dummen sein wollen.

Dann schaut jeder nur auf seine Angehörigen und niemand auf das größere Gemeinwohl. So hart können die Strafen gar nicht sein, als dass die Übel von Korruption und Steuerhinterziehung effektiv bekämpft werden können. Dann wird ein Staat zu Griechenland.

Der griechischen Misere liegt ebenso ein Gefangenendilemma zugrunde wie dem Elend so vieler afrikanischer Staaten. Fast jeder Grieche weiß, was geschehen muss, um das Land zu sanieren. Aber sie warten darauf, dass andere zuerst ihren Beitrag leisten - die Reichen, die Beamten, die Politiker. Stillstand ist in einer solchen unsolidarischen Gesellschaft unvermeidbar, der Kollaps sehr wahrscheinlich.

Sozialbiologen wie der aus Österreich stammende Harvard-Professor Martin Novak setzen noch viel früher an: Auch bei einfachen Lebewesen entscheidet die Fähigkeit zur Kooperation darüber, ob eine Art im darwinistischen Kampf ausstirbt oder überlebt. Und die menschliche Geschichte lässt sich überhaupt als allmähliches Entstehen kooperativer Strukturen beschreiben - vom Clan über den Stamm, den Stadtstaat, autoritär regierte Reiche bis zu modernen demokratischen Staaten, die nicht nur im Inneren das Gefangenendilemma überwinden, sondern auch lernen, untereinander im Frieden zu leben. Aber - und das ist die Lehre aus dem Gefangenendilemma - Kooperation ist nie gesichert, sondern muss ständig neu erarbeitet werden. Der Anreiz zum destruktiven Egoismus ist immer vorhanden.

Das war auch die entscheidende Fehleinschätzung, an der letztlich der Kommunismus gescheitert ist. Wer glaubt, dass Menschen automatisch für das Gemeinwohl arbeiten, der kreiert ein Wirtschaftssystem, das nicht funktionieren kann. Nur das ständige Ausbalancieren zwischen Einzel- und Gemeinschaftsinteressen, das etwa eine soziale Marktwirtschaft auszeichnet, wird der real existierenden Natur des Menschen gerecht.

Prinzip der Religion

Solidarität unter den Gläubigen, gepaart mit der Angst vor einer höheren Gewalt - das ist auch etwa das Grundprinzip jeder Religion. Deren Entstehen und Funktion lässt sich daher ebenfalls durch das Gefangenendilemma erklären.

Welchen Weg kann man als Einzelner einschlagen, um die Chance auf Kooperation zu erhöhen? Wer immer nur nett ist und nachgibt, der wird von den anderen ausgenützt. Wer nur auf den eigenen Vorteil schaut, der trägt zum Scheitern der Zusammenarbeit bei. Der Politikwissenschafter Robert Axelrod ließ vor 30 Jahren Computerprogramme, die unterschiedliche Strategien verfolgten, immer wieder gegeneinander antreten. Nach dutzenden Runden erwies sich die Strategie "tit for tat" ("Wie du mir, so ich dir") am erfolgreichsten, bei der solange kooperiert wird, bis der andere abspringt. Nun wird das Programm ebenfalls egoistisch, um das Verhalten des anderen zu bestrafen, kehrt dann aber rasch wieder zur Kooperation zurück. Diese Vorgangsweise trägt auch eine moralische Botschaft in sich, eine Art von Lebensprinzip: Ich bin dein Freund, aber lasse mich nicht von dir ausnützen.

Und das lässt sich auch in persönlichen Partnerschaften anwenden. Letztlich ist jede Ehe ein ständiger Balanceakt zwischen der erwünschten Gemeinsamkeit und dem individuellen Vorteil - ob der nun darin besteht, dass einer seinen Willen durchsetzt, einen Seitensprung macht oder sich auch nur erlaubt, seine schlechte Laune nach Hause zu bringen.

Wer stets nur seine Interessen verfolgt, setzt früher oder später die Beziehung aufs Spiel. Aber wer es dem anderen ständig alles durchgehen lässt, der ermutigt egoistisches Verhalten, wird zum Opfer und schadet der Beziehung genauso. Anders als bei Axelrods Computerprogrammen ist eine Rückkehr zur Kooperation nach einem Bruch oft sehr schwierig. Doch genau in diesem Prozess liegt laut Partnerschaftsberatern der Schlüssel zu stabilen Ehen.

Das Gefangenendilemma und das mit ihm verbundene Trittbrettfahrerproblem sind die Grundlage jener ökonomischen öffentlichen Güter wie Umweltschutz oder Sicherheit, von denen niemand ausgeschlossen werden kann, egal ob man dazu beiträgt oder nicht. Deshalb kommen öffentliche Güter zu kurz, wenn der Staat nicht dafür sorgt. Das ist das Prinzip des Marktversagens, dessen Existenz selbst in der klassischen Ökonomie die Notwendigkeit staatlicher Institutionen erzeugt.

Aber auch die Demokratie wird allzu leicht Opfer eines Gefangenendilemmas. Kleine Gruppen wie Banken- oder Bauernverbände sind viel eher dazu befähigt, sich zur Durchsetzung ihrer Interessen zusammenzuschließen, weil sie Trittbrettfahrertum in den eigenen Reihen leichter verhindern können als die große Masse der Bevölkerung. Bei sehr vielen Beteiligten zahlt sich Engagement für eine Sache, von der dann alle profitieren, aus rationalen Gründen kaum aus. Deshalb kann sich eine Minderheit oft viel besser organisieren und die Politik dann im eigenen Sinne besser beeinflussen als die schweigende Mehrheit - das Gegenteil des demokratischen Prinzips.

Auch in den laufenden Reformdebatten in Österreich lässt sich diese Dynamik, die der große verstorbene US-Ökonom Mancur Olson als "Logik des kollektiven Handelns" beschrieben hat, ständig feststellen.

Und wer verstehen will, warum die Weltmeere leergefischt werden, obwohl damit die Fischer und die Fischereinationen ihre eigene Lebensgrundlage zerstören, kommt am Gefangenendilemma nicht vorbei - ebenso wenn es um den vergeblichen Kampf gegen die Erderwärmung geht. Die Welt mag vom Klimaschutz enorm profitieren, aber der Einzelne - ob Bürger, Unternehmen oder Staat - ist kurzfristig besser dran, auf die teuren Maßnahmen zur CO2-Reduktion zu verzichten.

Besonders wirkungsvoll wird das Gefangenendilemma im Kampf der Behörden gegen Kartelle angewandt. Die Kronzeugenregelung, seit einigen Jahren auch in Österreich erlaubt, beruht auf genau den gleichen Anreizen, die Jim und Tom zum Singen bringen.

Aber die vor mehr als 60 Jahren geschaffene Parabel ist mehr als nur ein Instrument für Wettbewerbshüter und Sozialwissenschafter. Auch im Alltag bietet es einen Kompass für den oft schwierigen Weg zu einem funktionierenden Zusammenleben. Es verkörpert das vielleicht beste Moralprinzip, das in der heutigen Zeit zu finden ist. (Eric Frey, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28./29.1.2012)