Elfi Jirsas Hausarzt wollte nicht nur ihre Cholesterinwerte prüfen, sondern führte gleich eine umfassende Blutanalyse durch – und diagnostizierte eine asymptomatische Vorform des multiplen Myeloms: Jene bösartigen Plasmazellen, die für den Knochenmarkkrebs verantwortlich sind, wurden in Jirsas Blutserum zwar nachgewiesen, jedoch in einer derart niedrigen Konzentration, dass sie beschwerdefrei war. Diese Vorstufe von Knochenmarkkrebs kann Jahre bis Jahrzehnte dauern.

In diesem Stadium werden die Patienten regelmäßig kontrolliert, aber nicht behandelt. "Es ist nicht dokumentiert, dass eine medikamentöse Behandlung der Vorstufe einen Nutzen bringt", erklärt Johannes Drach, stellvertretender Leiter der klinischen Abteilung für Onkologie an der Medizinischen Universität Wien. Solange keine Symptome vorlägen, würde eine Therapie nur zu Nebenwirkungen führen. Auch kann eine Erkrankung nicht verhindert werden, da nicht bekannt ist, welche Auslöser es für das multiple Myelom gibt. "Wenn wir die Medikamente bereits in der Vorphase verwenden, fehlt uns womöglich eine Therapiemöglichkeit, wenn die kranken Plasmazellen resistent sind", sagt der Onkologe. Bei Jirsa, die stellvertretende Leiterin der Selbsthilfegruppe für Patienten mit Knochenmarkkrebs ist, dauerte die Vorphase 13 Jahre.

Unspezifische Symptome – späte Diagnose

Da die bösartigen Plasmazellen nicht in einem Routineblutbild, sondern in einem speziellen Labortest entdeckt werden, wird die asymptomatische Vorstufe meist nicht erkannt. Unspezifische Beschwerden wie Müdigkeit, Leistungsabfall und wandernde Knochenschmerzen sind Hinweise. Häufig wird erst die symptomatische Krebserkrankung über Umwege, etwa durch ein Röntgen bei Knochenschmerzen, nachgewiesen.

Bei fortschreitender Erkrankung aktivieren die bösartigen Plasmazellen knochennabbauende Zellen, die den Knochen ausdünnen – Schmerzen und Brüche sind die Folge. Beim Auslösen des Knochens wiederum kommt Calcium frei. Ein erhöhter Caliciumspiegel im Blut führt zu Übelkeit, Erbrechen, Nierenschäden oder auch Nierenversagen. Letzteres kann auch direkt durch die kranken Plasmazellen ausgelöst werden, weil diese die Nierenkanälchen schädigen. "Es ist daher wichtig, dass wir interdisziplinär, vor allem mit der Orthopädie und der Nephrologie zusammenarbeiten", erklärt Drach.

Als Jirsa 2002 behandelt wurde, erhielt sie neben der Chemotherapie ihre eigenen Stammzellen transplantiert. Dies ist bei Patienten unter 65 Jahren Standard, um die die Blutbildung nach der Chemotherapie rasch regenerieren zu können.

Vorläufig geheilt durch Remission

Bei erfolgreicher Behandlung liegen keine klinischen Anzeichen mehr für eine Erkrankung vor, der Patient ist vorläufig geheilt, also in Remission. Auch bei Jirsa gelang eine vollständige Remission. Ihr Lebensmotto hat sie dieser vorübergehenden Heilung angepasst: "Ich bin hauptberuflich gesund."

Generell remittieren viele Patienten mit multiplem Myelom: Jene mit transplantationsgestützter Chemotherapie werden in über 90 Prozent der Fälle vorübergehend geheilt. "Zehn bis 15 Prozent unserer Patienten zeigen bereits seit zehn Jahren keine Symptome mehr – wir gehen davon aus, dass sie tatsächlich geheilt sind", erklärt Drach. Bei anderen Krebserkrankungen, etwa Brust- oder Darmkrebs, gilt der Patient bereits nach fünf Jahren als geheilt, wenn bis dahin kein Rückfall erfolgt. Patienten, die keine Transplantation erhalten, werden zu 75 Prozent remittiert.

Insgesamt überleben die Patienten durch die verbesserte Therapie heute deutlich länger: Ohne Chemotherapie lag die Überlebenszeit bei sechs bis zwölf Monaten, heute liegt sie bei fünf bis sechs Jahren.

Forschungen an neuen Medikamenten

Da das multiple Myelom eine chronische Erkrankung ist, tritt die Krankheit nach der Remissionszeit wieder auf. "Typischerweise werden die Remissionszeiten nach einer erneuten Behandlung kürzer, entweder durch eine Resistenz oder weil uns die Medikamente ausgehen", betont Drach. Derzeit werden einige neue Medikamente in klinischen Studien getestet, um das Therapiespektrum zu erweitern. "Ich empfehle den Patienten, daran teilzunehmen, weil sie davon nur profitieren können", so Drach. Es herrsche immer noch das Vorurteil vor, als "Versuchskaninchen" zu gelten, aber: "Es gibt zu den Medikamenten ja schon Ergebnisse, was heute Standard ist, war vor ein paar Jahren auch eine klinische Studie", meint er.

Auch Jirsa, die im letzten Jahr erneut behandelt wurde und wieder komplett remittiert ist, hat an einer klinischen Studie teilgenommen. "Dadurch kann ich die Therapiemöglichkeiten für andere Patienten verbessern", begründet sie ihren Entschluss. (Sophie Niedenzu, derStandard.at, 23.3.2012)