(An einem der Tische Mutter Rosa (73), Sohn Albert (49), Schwiegertochter Marianne (38) und Enkel Ralf (7). Sie sind eben mit dem Essen fertig geworden.)

MARIANNE (zu Rosa): War's gut?

ROSA: Ein Wienerschnitzel halt.

ALBERT: Warum bestellst du nicht was anderes? Jedes Mal isst du Wienerschnitzel.

ROSA: Wienerschnitzel ist sicher. Bei was anderem weiß man nie.

(Pause. Albert macht Marianne ein Zeichen.)

MARIANNE: Mama? Der Ralfi möcht' dir ein Gedicht ... sagen.

ROSA (zu Albert): Was sagt sie?

ALBERT: Ein Gedicht sagt dir der Ralfi.

ROSA (legt die Hand hinters Ohr): Ich versteh's nicht. Das wird von Tag zu Tag schlimmer mit meiner Schwerhörigkeit. Was will der Ralfi?

ALBERT: Ein Muttertagsgedicht will er dir sagen!

ROSA (lächelt): Das ist lieb. Aber ich versteh's ja nicht.

MARIANNE (zu Ralf, flüsternd): Laut, Ralfi!

RALF (laut): Liebes Münterlein. Du bist für mich -

MARIANNE: Nicht Münterlein! Mütterlein! Herrgott, wie oft denn noch?!

RALF: Liebes Mün- ... Liebes Mütterlein.

ROSA (zu Albert): Was sagt er?

ALBERT: Liebes Mütterlein.

ROSA: Ich bin doch gar nicht sein Mütterlein.

ALBERT: Pst. Horch zu.

ROSA: Ich versteh's ja nicht.

RALF (laut): Du bist für mich die Allerbeste, du hast mein Leben mir geschenkt, drum - ...

ROSA: Der Mariann' muss er das sagen, die ist die Mutter.

ALBERT: Der Mariann' hat er's schon in der Früh gesagt.

MARIANNE (zu Ralf, flüsternd): Drum wünsch' ich dir zu diesem Feste.

RALF: Drum wünsch' ich dir zu diesem Feste ... Feste ...

ROSA (zu Ralf): Das hast du ganz toll gemacht, Ralfi, das war ganz lieb von dir. Dein Papa hat mir nie ein Gedicht gesagt zum Muttertag.

ALBERT: Weil du nie da warst! Weil du immer in Griechenland warst mit dem Papa im Mai und ich zur Tante Hertha hab' müssen!

MARIANNE (zu Ralf, flüsternd): Dass Gott stets deine Schritte.

RALF: Die Oma horcht ja überhaupt nicht zu!

ALBERT: Jedes Jahr habe ich ein Muttertagsgedicht auswendig lernen müssen in der Schule, und nie habe ich es aufsagen können, weil du nie da warst!

ROSA: Sag halt jetzt eins.

ALBERT: Jetzt ist es zu spät.

ROSA: Für eine Mutter ist es nie zu spät.

MARIANNE: Könnt ihr bitte aufhören und dem Ralfi zuhören? (Zu Ralf:) Noch einmal, Ralfi.

RALF: Liebes Münterlein. Du bist für mich die Allerbeste, du hast mein Leben mir geschenkt, drum wünsch' ich dir -

ROSA: Ich versteh's ja nicht.

(Vorhang)

(Antonio Fian, DER STANDARD, 12./13.5.2012)