Stadionerlebnis 2012: Die polnischen Fans können sich beim Absingen der Hymne in ihrem neuen Nationalstadion zuschauen. Zuhören sowieso.

Foto: Robausch

Die drei Staffelläufer sind das letzte Überbleibsel des Stadions X-lecia.

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Ein Gefälle wie in der Mausefalle: im Warschauer Weidenkorb.

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Es geht sich schön und voller Frieden hier am Wasser. Kleine Leute spazieren mit Kindern auf dem Arm; man legt Wiesenplätze mit Bäumen, Sitzbänken an. Die schöngepflasterte Karowastraße mündet links, über Holztreppen klimmt sie zur Stadt an. (Alfred Döblin, Reise in Polen, 1924)

Schön ist es ist immer noch an der Weichsel, wie sie durch Warschau fließt, wohl aber nicht mehr ganz so friedlich. Auch hier hat man den Fluss mittlerweile mit Straßen eingerahmt, auf denen unablässig der Verkehr rauscht. Grün ist es immer noch und Polens großer Strom einer der wenigen in Europa, die noch halbwegs frei fließen dürfen. Da sind Auen, Sandbänke und vielarmige Verzweigungen. Sieht man die Weichsel, wird einem deutlich vor Augen geführt, dass die Donau nicht nur nicht blau, sondern auch längst kein Fluss mehr ist. Über weite Strecken zu flach für kommerzielle Schifffahrt, ist der Weichsel ein Ausbau erspart geblieben.

Ein Anflug von Wildheit und Unberechenbarkeit wohnt der Weichsel noch inne - und tatsächlich sind tiefer gelegene Stadtgegenden immer wieder von Überschwemmung bedroht. Ein ganzes Viertel ist nach dem Fluss benannt: Powiśle, was nichts anderes heißt als: neben der Weichsel. Sein in die eigentlich flach wie eine Palatschinke daliegende Landschaft eingekerbtes Tal schmückt die direkt an der Geländekante gelegene Warschauer Altstadt mit reizvollen Aussichten hinüber auf das linke Ufer. Dort liegt der als etwas rauer geltende Stadteil Praga - und neuerdings auch das blitzende Stadion Narodowy.

Fußball heute

In den Nationalfarben Rot und Weiß gehalten, wurde es ausgerechnet von einem deutschen Architektenkonsortium entworfen. Mitgebaut hat auch die österreichische Alpine. Es hat 55.000 Plätze, dramatisch steile Tribünen und ist von einer ausgeklügelten Faltdachkonstruktion ähnlich jener in der Frankfurter Arena gekrönt. Technisch alle Stücke spielend, ist der Eindruck für den Besucher doch ein zwiespältiger. Denn mit der Perfektion geht auch der Hautgout der Sterilität einher, welche natürlich kein Zufall, sondern die Folge jener Keimfreiheit ist, die sich die UEFA für ihre Euro erwartet. Weichgespülte Fernsehtauglichkeit als erste Priorität verlangt eben entsprechende Kulissen. Die Inszenierung hat bei dieser Art von Fußball längst die Oberhand gewonnen, verabreicht werden vorgekaute Häppchen, und es gibt Emotion made by Sponsoren. Letztere sind auf dem riesigen Videowürfel unter dem Plafond auch gut vertreten, auf dem man die laufenden Matches im Zweifel auch verfolgen kann - Zeitlupenwiederholungen inklusive.

Nichts soll die makellose Oberfläche trüben, Umwelteinflüsse möglichst ausgeschaltet werden. So bleibt das Dach während des Eröffnungsspiels der Polen und Griechen wegen Regengefahr auch geschlossen. Es erscheint nicht unwahrscheinlich, dass man künftig auch darangehen wird, Fehlpässe irgendwie aus diesem wunderbaren Bild zu verbannen.

Unter seiner Betonhaut kann das Warschauer Stadion aber noch mit ganz anderen Superlativen aufwarten: 20.000 Quadratmeter Freifläche warten auf Bespielung, Multifunktionalität heißt so etwas heutzutage. Dass sie realisiert wird und eine Zukunft des Bauwerks als überflüssiger weißer Elefant verhindert werden kann, ist eher unwahrscheinlich. Ein paar Länderspiele, ein paar Konzerte, das wird es wohl gewesen sein.

Vorgänger aus einer anderen Zeit

An den Namen ihrer Arena müssen sich viele Warschauer erst noch gewöhnen, geläufiger ist ihnen noch das Dziesięciolecia oder kurz: das X-lecia, das seit 1955 auf diesem historischen Grund stand. (Noch davor war dies der Standort des alles andere als monumentalen Sportplatzes von Makkabi, einem der dutzenden jüdischen Sportvereine aus dem Warschau der Zwischenkriegszeit, die heute so gut wie vergessen sind.)

Das "Stadion des 10. Jahrestages" (der Errichtung der polnischen Volksrepublik) bot auch einen ganz anderen Anblick: Es wuchs nicht nach oben, sondern im Gegenteil hinunter, hinein in einen gewaltigen Berg von Kriegsschutt. Bis zu 100.000 Menschen verfolgten hier in den 1950er Jahren Sportveranstaltungen, ein Höhepunkt war der Leichtathletikwettkampf, den das polnische "Wunderteam" 1958 gegen die USA gewann. Das letzte Fußballspiel fand 1983 statt, ein Vergleich mit Finnland. Danach rottete das X-lecia vor sich hin und beherbergte vor seinem Abriss 2008 einen riesigen Freiluftmarkt für alles Mögliche und Unmögliche.

Verwirrungen

Zusätzlich trägt zur Unvertrautheit bei, dass vor der Errichtung des neuen ein anderes Nationalstadion schon da war: das Schlesische Stadion in Chorzów, der Stadt des polnischen Rekordmeisters Ruch. Sein Design aus Steckmetallpaneelen, die aus unerfindlichen Gründen den Eindruck eines geflochtenen Weidenkorbs erwecken sollen, wurde und wird in Warschau ebenfalls durchaus kontroversiell diskutiert. Man mag's - oder eben nicht so.

Stellvertretend für das eher nicht so steht der Architekt Krzysztof Konieczny: Wegziehen sollte ich, irgendwohin, wo man dieses scheußliche Ding nicht ständig vor der Nase hat, aber wohin denn, mein Herr, dieser Scheißhaufen thront ja über der Stadt wie einer zweiter Kulturpalast. (...) In diesem Land zählt nur der Schnickschnack und das Aufgeblasene, je blinkender desto besser, blind muss man davon werden, und die Handlanger aus Deutschland mussten diesen Geschmacksverwirrten auch noch in den Arsch kriechen. (aus: Totalniy Futbol, Suhrkamp 2012). (Michael Robausch, derStandard.at, 11.6.2012)