Günther Bernatzky: "Man spricht heute vom 'Total Pain' oder vom 'Biopsychosozialen Schmerzmodell'. Dabei werden unter anderem folgende vier Schmerzkomponenten unterschieden: physischer, psychischer, sozialer und spiritueller Schmerz."

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Soziokulturelle Dimensionen wie Religion, ethnische Herkunft, Zivilisationsstufe, Gesellschaft oder kulturelle Sozialisation bestimmen die Schmerzwahrnehmung, das Schmerzverhalten und die Schmerzerfahrung.

Die zeitgemäße Schmerztherapie unterscheidet vier Zustände: physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Schmerz. Schmerzexperte Günther Bernatzky analysiert die Notwendigkeit einer ganzheitlichen, interdisziplinären Therapie und die immer noch herrschenden Vorurteile der Patienten gegenüber einer medikamentösen Schmerztherapie.

derStandard.at: Geht Krebs immer mit Schmerz einher?

Bernatzky: Eine europäische Studie aus dem Jahr 2007 zeigt, dass im länderweiten Überblick 56 Prozent aller Tumorpatienten über Schmerzen berichten. Davon schildern 21 Prozent täglich starke bis sehr starke Schmerzen. Im Terminalstadium (die letzte Phase einer chronischen, lebensbedrohlichen Erkrankung, Anm.) leiden 90 bis 100 Prozent der Betroffenen unter Schmerzen.

derStandard.at: Lassen sich Unterschiede im Schmerz feststellen?

Bernatzky: Das Auftreten und das Ausmaß der Schmerzen sind bei den verschiedenen Tumorerkrankungen unterschiedlich. So leiden bei Knochen- sowie Gebärmutterkrebs 85 Prozent der Patienten an Schmerzen; bei Lymphdrüsenkrebs 20 Prozent und bei Leukämie fünf Prozent.

Weiters unterscheiden wir zwischen direkten Tumorschmerzen, beispielsweise wenn der Tumor die Knochen angreift oder auf Nerven drückt, und indirekten Tumorschmerzen; diese entstehen, wenn der Tumor Entzündungen bewirkt, Knochenbrüche verursacht oder Hohlorgane wie Darm oder Blase verstopft.

derStandard.at: Hat dieses Schmerzbewusstsein Ärzte und Betreuungspersonen bereits erreicht oder ist hier noch Aufklärungsarbeit nötig?

Bernatzky: Das sollte inzwischen Allgemeinwissen sein. Man spricht heute vom "Total Pain", bei dem all diese Faktoren eine Rolle spielen, oder vom "Biopsychosozialen Schmerzmodell". Dabei werden unter anderem folgende vier Schmerzkomponenten unterschieden: physischer, psychischer, sozialer und spiritueller Schmerz.

Diese aktuelle Multidimensionalität und Deutungsvielfalt von Schmerz ist nicht alleine als ein Produkt unserer Zeit zu betrachten, sondern geht in ihren Ansätzen bis in antike Quellen zurück. Aber erst moderne Schmerztherapien haben zu einem Schmerzverständnis geführt, in dem soziokulturelle Dimensionen wie Religion, ethnische Herkunft, Zivilisationsstufe, Gesellschaft oder kulturelle Sozialisation häufig vernächlässigt werden. Diese Dimensionen bestimmen die Schmerzwahrnehmung, das Schmerzverhalten und die Schmerzerfahrung.

derStandard.at: Wie gestaltet sich zeitgemäße Schmerztherapie?

Bernatzky: Es gibt von der Weltgesundheitsorganisation vorgegebene Richtlinien über das sogenannte WHO-Stufenschema. Dabei muss der Arzt die Medikamente der entsprechenden Stufe dem Patienten zur richtigen Zeit in der entsprechenden Dosierung regelmäßig geben. Patienten haben einen Rechtsanspruch auf eine angemessene Schmerztherapie. Es muss alles unternommen werden, um diesem Anspruch nachkommen zu können.

derStandard.at: Sie schrieben in Ihrem Aufsatz "Schmerz, ganzheitlich gesehen", es sei davon auszugehen, dass mehr als 50 Prozent der Patienten ihre Medikamente nicht den ärztlichen Angaben entsprechend einnehmen. Warum?

Bernatzky: Angst vor einer Atemhemmung, die Angst vor Suchtentstehung, die Angst, dass die Schmerztherapie das Immunsystem schwächt, das Leben verkürzt, sind Gründe dafür. Das betrifft vor allem die Verwendung von Opioiden in der Therapie. Viele glauben, durch Opioide entstehen Abhängigkeit und Verlust der Würde, aber sie haben keine organschädigende Wirkung. Alle diese Vorurteile sind komplett überholt und falsch. Erst wenn sie seitens der Patienten abgebaut werden, kann es gelingen, die Kooperation zwischen Patienten, Ärzten und Betreuungspersonen zu verbessern. Die einzigen möglichen Nebenwirkungen sind Verstopfung oder Übelkeit und Schläfrigkeit, was in vielen Fällen zu Therapieabbrüchen führt.

derStandard.at: Ist es heute möglich, die Schmerzen von Krebspatienten weitgehend auszuschalten?

Bernatzky: Gerade bei Krebspatienten ist Schmerztherapie hoch effizient möglich. Wenn dennoch Schmerzen bestehen bleiben, ist eine umfassende, ganzheitliche, interdisziplinäre Therapie notwendig, in der auch nichtmedikamentöse Methoden eingesetzt werden sollen. Das öffentliche Interesse an solchen sogenannten multimodalen Therapieansätzen inklusive ganzheitlicher Begleittherapien ist heute besonders hoch.

derStandard.at: Was hat sich diesbezüglich bewährt?

Bernatzky: Verschiedene verhaltenstherapeutische oder physikalische Methoden, traditionelle chinesische Medizin, Nahrungsergänzung, Phytotherapie oder Kneipp-Anwendungen werden immer öfter in der modernen Schulmedizin diskutiert und eingesetzt. An nichtmedikamentösen Methoden sind TENS, Biofeedback und Akupunktur hervorzuheben.

Darüber hinaus liegen ausgezeichnete Ergebnisse vor für die therapeutische Wirksamkeit von Angeboten an Ergotherapie, Physiotherapie, psychologischen Methoden, Musiktherapie und vielem mehr. Viele dieser multimodalen Therapieansätze sind gut in Kombination mit anderen Methoden anwendbar und führen in vielen Fällen zu erhöhter Patientenzufriedenheit, einer geringeren Krankenhaus-Aufenthaltsdauer sowie einer geringeren Morbidität und Mortalität, wobei das alles natürlich mit einer effektiven medikamentösen Therapie einhergeht.

derStandard.at: Wie steht es mit Empathie?

Bernatzky: Zuwendung ist ein wichtiger Aspekt. Der Schmerzpatient ist auch auf ein intaktes Umfeld angewiesen, das nicht nur aus medizinischem Personal besteht, sondern darüber hinaus aus Angehörigen, Selbsthilfegruppen und Personen aus dem Pflegebereich im weitesten Sinn.

derStandard.at: Zuwendung verlangt Zeit und soziale Kompetenz. Ist das angesichts von Sparmaßnahmen und Zeitknappheit umsetzbar?

Bernatzky: Was Sie ansprechen, ist mir bekannt. Wir müssen alles unternehmen, dass sich dieser Zustand verändert. In vielen Einrichtungen kann allerdings bereits auf dieses Konzept eingegangen werden. So erhalten Mitarbeiter des Österreichischen Hilfswerks eine besonders ausführliche Schulung über Schmerzentstehung, -erkennung und -behandlung im Sinne von Schmerz als "Total Pain". Sie sind letztlich auch wichtige Partner für den niedergelassenen Arzt, der die Betreuung dieser Patienten über hat. In Salzburg existiert ein Tageshospiz, in das Patienten tagsüber gebracht werden können, dort sehr gut versorgt und am Abend wieder nach Hause gebracht werden. Eine große Bedeutung haben ehrenamtliche Helfer. Natürlich sollten diese nichtmedizinischen Personen auch geschult und informiert sein.

derStandard.at: Zurück zu den multimodalen Therapieansätzen. An wen kann sich jemand wenden, der so etwas wünscht und benötigt? Und werden diese interdisziplinären Therapieformen den Patienten tatsächlich angeboten und von den Kassen bezahlt?

Bernatzky: Der Arzt beziehungsweise das Betreuungspersonal spielt in der Arzt-Patienten-Beziehung die größte Rolle. Der Arzt sollte gefragt werden, was der Patient für die Therapie zusätzlich tun kann.

Bezahlt wird leider nicht alles. Die Entscheidung liegt bei der Kasse beziehungsweise bei der Versicherung, und sie hängt von der Art des Antrages durch den Arzt ab. Wenn eine Methode evidenzbasiert mit den entsprechenden Publikationen bewiesen ist, wird sie großteils bezahlt. Im Rahmen der multimodalen Therapie wird das gesamte Spektrum bezahlt. Zurzeit ist das bei Rudolf Likar, Leiter des Zentrums für Interdisziplinäre Schmerztherapie, Onkologie und Palliativmedizin am Klinikum Klagenfurt, möglich.

derStandard.at: Was ist aus Ihrer Perspektive eine Notwendigkeit in der Schmerztherapie? Worin liegt die Zukunft?

Bernatzky: Im Abbau von Vorurteilen und dem Einhalten von vorgegebenen Richtlinien, zum Beispiel dem WHO-Stufenschema. Außerdem in einem frühzeitigen Behandlungsbeginn, einem interdisziplinären Therapieansatz mit entsprechend viel Zuwendung sowie dem Einsatz von evidenzbasierten nichtmedikamentösen Methoden. Menschliche Nähe hilft dem schwer kranken Menschen, auch die Zeiten von Einsamkeit und Leid zu ertragen. Man muss den Schmerz ernst nehmen. (Eva Tinsobin, derStandard.at, 11.9.2012)