Das Wildschwein hat sich in den letzten Jahrzehnten in ganz Europa extrem vermehrt.

Foto: Claudia Bieber

Warum das so ist, wollen Wissenschafter an der Vetmed nun herausfinden.

Zuerst um die eigene Entwicklung kümmern oder gleich Kinder kriegen? Diese Frage stellt sich nicht nur jungen Menschen, sondern bis zu einem gewissen Grad auch jedem Tier. Die Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, nennt sich Lebensgeschichte- oder Life-History-Forschung, ein recht junges Teilgebiet der Biologie. Am Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien (Fiwi) befasst sich die Wildbiologin Claudia Bieber mit der Lebensgeschichte von Wildschweinen.

Viel Nachwuchs

Wildschweine gehören zu den Huftieren, einer Säugergruppe, die unter anderem auch Rinder, Hirsche und Pferde umfasst. Sie alle sind groß, langlebig und bekommen nur ein bis zwei Junge pro Jahr - eine Lebensweise, die in der Life-History-Forschung als "slow" (langsam) kategorisiert wird. Ein klassisches Gegenbeispiel sind kleine Tiere mit geringer Lebenserwartung, zum Beispiel Mäuse: Sie setzen bei ihren Lebenszyklen auf die Strategie "fast" (schnell), indem sie in kürzester Zeit so viel Nachwuchs wie möglich erzeugen.

"Die Wildschweine stechen da unheimlich heraus", meint Bieber, "sie sind ähnlich groß und langlebig wie andere Huftiere, aber sie kriegen gewöhnlich vier bis acht Junge." Außerdem können sie ihren ersten Wurf schon deutlich vor dem Erreichen ihres ersten Geburtstags bekommen, wohingegen beispielsweise Hirsche erst im Alter von zwei bis drei Jahren am Paarungsgeschehen teilnehmen.

Diese beiden Umstände befähigen das Wildschwein, sich bei günstigen Bedingungen extrem zu vermehren, wie es das in den letzten Jahrzehnten in ganz Europa tut und damit der Landwirtschaft schadet. "Wenn eine ausgewachsene Bache sechs Junge hat und wenn die alle durchkommen und die jungen Weibchen noch vor ihrem ersten Geburtstag selbst wieder drei Junge kriegen, können wir in Jahresfrist bis zu 15 Nachkommen von einem Tier haben", rechnet Bieber vor.

Wieso machen die wilden Verwandten des Hausschweins dann erst jetzt Probleme? "Möglicherweise spielt der Klimawandel mit", mutmaßt die Forscherin: "Speziell für die jungen Wildschweine ist ein strenger Winter mit tiefen Temperaturen eine Herausforderung. Ein gefrorener Boden mit geschlossener Schneedecke erschwert die Nahrungsaufnahme. Die zunehmend wärmer werdenden Winter erhöhen die Überlebenswahrscheinlichkeit in dieser Altersgruppe enorm."

Die größte Rolle bei der Entwicklung des Wildschweinbestands spielt das Nahrungsangebot. Unter normalen Umständen vermehren Wildschweine sich nur in solchen Jahren massiv, in denen Eichen und Buchen besonders viele Früchte tragen. In solchen "Mastjahren" nehmen viele junge Weibchen schon an der Reproduktion teil. Laut einer gängigen Theorie der Life-History-Forschung sollte der "Preis" früher Fortpflanzung eine geringere Lebenserwartung sein. Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass es bei verschiedenen Arten auch Individuen geben dürfte, die beides haben können: eine lange Lebensspanne und viel Nachwuchs.

Bieber und ihre Mitarbeiterinnen wollen in den nächsten Jahren untersuchen, ob es auch unter den Wildschweinen solche "Superorganismen" gibt. Dazu haben sie im vergangenen November - unterstützt durch das Bridge-Programm von Infrastrukturministerium und FFG - im Burgenland zwei umzäunte Areale mit 20 und 30 Hektar mit insgesamt 118 gleich alten Frischlingen bestückt. Während in dem größeren Gehege sowohl weibliche als auch männliche Tiere untergebracht sind, leben auf dem kleineren Gelände vorläufig nur Weibchen. Erst diesen Herbst sollen auch Keiler dazu kommen.

Lebenslang beobachten

In den nächsten drei Jahren werden verschiedene Parameter wie Zeitpunkt der Geburten, Wurfgröße und die Gewichtsentwicklung der Tiere registriert und verglichen. Dabei soll sich zeigen, ob es Unterschiede zwischen den Bachen gibt, die schon mit weniger als zwölf Monaten das erste Mal Mutter werden, und jenen, die erst im darauffolgenden Jahr mit der Fortpflanzung beginnen. Die Elterntiere sollen ihr ganzes Leben in den Gehegen beobachtet werden, während der Nachwuchs jedes Jahres in ein Jagdgehege entlassen wird. Dabei erhält ein Teil der Frischlinge besonders energiereiches Futter, um den "Silverspoon-Effekt" zu überprüfen: Wenn die Tiere später erlegt werden, wird bestimmt, wie viele Junge sie hatten, um festzustellen, ob die fetten Anfangsmonate in zahlreicherem Nachwuchs zu Buche schlagen. Mittels DNA-Proben und entsprechender Verwandtschaftsuntersuchungen soll außerdem erhoben werden, wie viele Weibchen ein einzelner Keiler geschwängert hat. Zusätzlich analysiert Biebers Arbeitsgruppe auch Persönlichkeitsunterschiede der Tiere, etwa wie sie auf unbekannte Objekte reagieren. Auch die Sozialstrukturen werden beobachtet, immerhin ist die Situation in den Gehegen keine natürliche. Um das individuelle Wachstum, die Fetteinlagerung und deren saisonale Schwankungen feststellen zu können, werden die Schweine regelmäßig gewogen.

Einhalt gebieten

Auf einer im Gelände installierten Waage passiert das jedes Mal, wenn die Tiere darüber laufen. Eine Ohrmarke mit Chip ermöglicht gleichzeitig eine individuelle Erkennung und damit automatische Computerregistrierungen von Gewichtsentwicklungen. "Mittlerweile gehen alle Tiere bereitwillig auf die Waage", freut sich Bieber - und auch darüber, dass sich die Forscherinnen in der Rotte ungehindert bewegen können, ohne die Tiere zu beeinträchtigen.

Aus Computer-Simulationen weiß Bieber schon jetzt: "Laut unseren Berechnungen dürfen nicht mehr als 20 Prozent der Frischlinge überleben, wenn ein weiteres Anwachsen der Population verhindert werden soll. Bei höheren Überlebensraten der Jungen muss auch in den anderen Altersklassen reguliert werden."

Zu diesem Thema gebe es auch eine Diskussion innerhalb der Jägerschaft, zu der sie mit wissenschaftlichen Fakten beitragen will. "Unsere Aufgabe ist, mit solider Grundlagenforschung die Basis zu schaffen, die wir für verlässliche Modellrechnungen zur Populationsdynamik von Wildschweinen brauchen. Dann können wir die Maßnahmen identifizieren, mit denen einer zu starken Vermehrung der Wildschweine Einhalt geboten werden kann." (Susanne Strnadl, DER STANDARD, 12.9.2012)