Der Ur-Vierfüßer aus St. Louis. Der Schädel ist von der Unterseite zu sehen. Die Knochen selber sind nicht erhalten, haben aber Abdrücke im Gestein hinterlassen.

Foto: Museum für Naturkunde Berlin

Zeichnung des Schädels nach einem Silikonausguss. Zu sehen sind Teile von Ober- und Unterkiefer sowie die Knochen des Gaumens.

Foto: Museum für Naturkunde Berlin

Auch in alten wissenschaftlichen Sammlungen sind noch außergewöhnliche Funde zumachen. Forscher des Museums für Naturkunde Berlin identifizierten ein ehemals für einen Fisch gehaltenes Fossil als Vierfüßer (Tetrapoden), der aus 340 Millionen Jahre alten Gesteinschichten von St. Louis, Missouri (USA) stammt. Der sensationelle Fund stellt eines der wenigen Zeugnisse aus einer für die Wirbeltiere entscheidenden Phase der Erdgeschichte dar, dem Unterkarbon, in welcher der eigentliche Schritt der Tetrapoden vom Wasser auf das Land stattfand.

Die ersten Tetrapoden entwickelten sich aus einer bestimmten Gruppe von Fischen, den Fleischflossern, vor etwa 360-380 Millionen Jahren in der Zeit des Oberdevons. Sie waren ihren fischartigen Vorfahren allerdings in vieler Hinsicht noch sehr ähnlich und lebten wie diese weitgehend im Wasser. Erst im darauffolgenden Zeitabschnitt der Erdgeschichte, dem Unterkarbon, passten sich die Tetrapoden an das Leben an Land an und spalteten sich stammesgeschichtlich in ihre wichtigsten Entwicklungslinien auf. Leider sind aus dieser Epoche nur sehr wenige Tetrapoden fossil überliefert, weshalb diese Zeit nach dem bedeutenden amerikanischen Paläontologen Alfred S. Romer unter Wissenschaftlern als "Romers Lücke" bekannt ist. Genau in diese "Lücke" reiht sich nun der neue Fund ein.

Abdruck eines Schädels

Das eher unscheinbare Fossil aus dem St.-Louis-Kalkstein stellt den Abdruck eines etwa vier Zentimeter langen Schädels von der Unterseite dar. Es kam Anfang des 20. Jahrhunderts in die Sammlung des Berliner Museums für Naturkunde und wurde als Rest eines "unbestimmten Quastenflossers" inventarisiert. Dort blieb der Fund über 100 Jahre unbemerkt, bis Florian Witzmann und Johannes Müller vom Berliner Naturkundemuseum die für einen Fisch eher ungewöhnliche Schädelform auffiel. Da die Knochen selber nicht mehr erhalten sind, sondern nur einen Negativabdruck im Gestein hinterließen, fertigten die paläontologischen Präparatoren des Museums hochauflösende Silikon- und Latexausgüsse des Fossils ab, welche die Strukturen der Knochen als Positiv in allen Einzelheiten zeigen. "Anhand der Struktur des Gaumens und des Unterkiefers konnten wir eindeutig nachweisen, dass der Schädel nicht zu einem Fisch, sondern zu einem Ur-Vierfüßer gehört“, so Florian Witzmann. 

Ältester Colosteide

Die exakte Fundstelle des Fossils konnte nicht mehr ermittelt werden, aber durch Gesteinsuntersuchungen wurde der Fundhorizont auf den unteren oder mittleren Abschnitt des St.-Louis-Kalksteins eingegrenzt. Damit stellt der Berliner Schädel den ältesten bekannten Rest eines Tetrapoden in Nordamerika nach dem Devon dar. Eine computergestützte Verwandtschaftsanalyse zeigt die Zugehörigkeit des Berliner Fundes zu einer sehr urtümlichen Gruppe von Tetrapoden, den Colosteiden, deren erdgeschichtlich ältester Vertreter er ist. Diese äußerlich an Salamander erinnernden Tiere entstanden noch bevor sich die Tetrapoden in die beiden Großgruppen aufspalteten, die zu den Amphibien und den Amnioten (Reptilien, Vögel, Säugetiere) führten. Im Oberkarbon, vor etwa 310 Millionen Jahren, starben die Colosteiden aus.

Die Analyse des umgebenden Gesteins deutet darauf hin, dass der Tetrapode auf dem Meeresboden in tieferem Wasser eingebettet wurde. Der Lebensraum des Tieres ist aber sicherlich im Flachwasser zu suchen; nach seinem Tod wurde es ins tiefere Wasser verdriftet. Ob es aber ein Bewohner der Meeresküste war und im Salzwasser lebte, oder wie heutige Amphibien im Süßwasser und dann durch einen Fluss ins Meer gespült wurde, ist noch ungeklärt. (red, derStandard.at, 20.10.2012)