Alles unter Kontrolle?

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Zumindest bunt ist die "Kinderleine".

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Die Schultasche in die Ecke geknallt. Ungeduldig das Mittagessen verschlungen. Dann endlich hinaus ins Freie. Auf schneebedeckte Hänge, zugefrorene Teiche, auf Spielstraßen, Fußballplätze oder ins selbst gezimmerte Baumhaus am Waldrand. Mit Bruder, Schwester, den Nachbarskindern oder gleich der ganzen Bande. Alles aus dem Tag herausgeholt, erst bei Einbruch der Dunkelheit zurück nach Hause, heiser vom Lachen, mit ehrlichem Hunger, dreckiger Hose und aufgeschürften Knien. Den Schmerz spüren wir nicht, weil die Geschichten dazu unsere Abenteuer sind.

Freiheit, wie sie heute nur mehr wenige Kinder erleben. Die in Kinderbüchern verklärt, in der Realität aber immer seltener wird. Nicht, dass früher alles besser war. Aber irgendwie war es einfacher. Wer in den 70er Jahren Kind war, für den hieß Sicherheit allenthalben Anschnallen im Auto und Schwimmflügerl im Wasser. 1980 tauchte Helmi im ORF auf, dieses naseweise Zwitterwesen aus Schneemann und Rennpilot, und lehrte die Kinder Verkehrssicherheit: links, rechts und noch mal links schauen am Zebrastreifen. Der Rest waren elterliche Ratschläge, gelassen vorgetragen, und organischer Hausverstand. Ein Sturzhelm beim Radfahren oder Skifahren? Undenkbar bis weit in die 90er Jahre. Wer macht sich schon gern zum Gespött der ganzen Siedlung.

Mit Helm im Kindersitz

Irgendwann war dann plötzlich Schluss mit sorgenlos. Und heute reden irgendwie alle von Sicherheit. Versicherungen, Banken, Stadtplaner, Autobauer – sie alle wollen "dem gesteigerten Sicherheitsbedürfnis Rechnung tragen". Und bieten Versicherungs-, Finanz-, Wohn- und Verkehrslösungen an, die so tun, als beherrschten sie die Unsicherheit. Das ist natürlich auch ein gutes Geschäft. Ob das gesteigerte Sicherheitsbedürfnis erst durch derartige Angebote, durch Werbung und Medien erzeugt wird, ist schwer zu sagen. Es treibt jedenfalls mitunter seltsame Blüten. So kann man in Einkaufszentren vereinzelt Eltern sehen, die ihre Kinder an einer Art Leine führen.

Ernste allgemeine Verunsicherung

Das wachsende Bedürfnis nach Sicherheit und Beherrschbarkeit der äußeren Umstände lässt sich nicht vom gesellschaftlichen Kontext trennen. Soziale, kulturelle und politische Milieus weichen sich auf, die Bevölkerungspyramide treibt sich auf die Spitze, der Generationenvertrag leckt, Leistung lohnt sich nicht mehr so richtig, und diffuse Ängste – wahlweise vor Arbeitslosigkeit, Terrorismus, dem Finanz- oder dem Ökokollaps – tun ein Übriges. Kein Wunder, dass Schlagzeilen wie "Täglich stirbt ein Kind durch einen Unfall" auf fruchtbaren Boden fallen.

Worauf noch Verlass ist

Vor allem Eltern mit guten Jobs und guter Bildung, die sich ganz bewusst und oft recht spät für Kinder entscheiden, wollen nichts dem Zufall überlassen. Schon gar nicht die Zukunft des Nachwuchses. In diesem Setting wird Kindheit zum minutiös durchdesignten Großprojekt, ein engmaschiges Regime aus Bespaßung, Bespielung, Förderung und Forderung soll den Kindern viele Lebenschancen bei wenigen Lebensrisiken garantieren.

Überfürsorgliche Mütter und Väter nennt die Populärwissenschaft heute übrigens Helikopter-Eltern: weil sie wie Beobachtungshubschrauber ständig um ihre Kinder kreisen, um diese zu behüten. Eine Umfrage der deutschen Zeitschrift "Familie & Co" hat jüngst gezeigt, dass sich viele Eltern zwar wünschen, dass ihre Kinder mehr freie Zeit im Freien verbringen. Doch mehr als zwei Drittel geben an, dass sie große Ängste haben, wenn die Kinder genau das tun.

Angst, als Erfahrung verpackt

Dabei lernen Kinder vor allem aus Erfahrung. Aus der eigenen. Nicht aus den Ängsten, die ihnen Eltern und Erziehungsberechtigte als gute Ratschläge verpackt um die Ohren hauen. Das ist kein Plädoyer für Vernachlässigung. Denn natürlich spricht die Lebenserfahrung für die Eltern. Und kein Mensch von Vernunft kann dafür sein, dass ein kleines Kind alleine im Straßenverkehr Lebenserfahrung sammelt. Das kann tödlich enden, und es ist die Pflicht der Eltern, Kinder zu beschützen, wo sie Schutz brauchen. Zugleich sollten sie ihren Kindern dort Freiheit lassen, wo sie sie vertragen.

Wie wichtig es ist, dass Kinder im Alltag unverplante und elternfreie Zeit haben, betonen Familientherapeuten wie der Däne Jesper Juul seit Jahrzehnten. Nur so würden Kinder lernen, sich selbst Struktur zu geben. Nur in der Langeweile könnten sie ihre innere Kreativität entdecken. Nur so würden sie Selbstständigkeit lernen. Juul: "Wir haben den Kindern in den letzten Jahren rund zwölf Stunden Freizeit pro Woche weggenommen. Mit Freizeit meine ich wirklich freie Zeit, die nicht mit Aktivitäten verplant ist." Kinder würden heute gezwungen, den Lebensstil ihrer Eltern nachzumachen, "obwohl die Eltern selbst unglücklich sind".

Wie wir leben wollen

Was Jesper Juul jenen Eltern zurufen würde, die es gut meinen, aber mit übertriebener Kontrolle der Kindheit auf die eigene Verunsicherung reagieren? Die Frage, vor der die Erwachsenen heute stehen, sei im Prinzip ganz einfach, sagt Juul. "Sie lautet: Will ich so ein Leben führen? Will ich gestresst sein, keinen Sex mehr haben und dass das alles nur deshalb funktioniert, weil wir als Familie so eine straffe Struktur haben?" Das müsse sich ein erwachsener Mensch fragen. "Wenn er dann zum Ergebnis kommt, dass er so leben will, dann hat das eben seinen Preis." Leider auch für die Kinder. (Lisa Mayr, derStandard.at, 12.2.2013)