Familientherapeut, Autor und derStandard.at-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: Family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

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Eine Userin schreibt:
Ich bin Mutter zweier wunderbarer Kinder. Mein Sohn ist fünf Jahre alt, meine Tochter vier. Sie sind sehr glücklich und kommen gut miteinander aus. Meine Kinder lieben es, Dinge zu erforschen und zu experimentieren. Manchmal spielen sie gegenseitig mit ihren Genitalien. Meistens spielt meine Tochter mit dem Penis ihres Bruders. Sie kitzelt ihn und er lacht. Genau so, als ob sie ihn irgendwo anders kitzeln wurde. Es gibt überhaupt keine sexuellen Anzeichen, die mich beunruhigen würden.

Das, was mich allerdings beunruhigt, sind die Grenzen zwischen den beiden Geschlechtern. Wohin wird das führen, wenn sie älter sind? Werden sie ohne diese Grenzen weiterleben - vielleicht gar in einem Ausmaß, das eines Tages unangebracht ist? Es macht mir Sorgen, dass meine Tochter plötzlich den Penis ihres Bruders küssen oder in den Mund nehmen möchte - oder dass mein Sohn ähnliches bei ihr macht.

Ich frage mich auch, ob sie sich später an ihre Spiele erinnern. Ob sie sich dann beschämt, schuldig und unbehaglich fühlen werden. Ich mache mir auch Gedanken darüber, was passieren könnte, wenn ich meine Kinder von ihren Erkundungen abhalte. Vielleicht fühlen sie sich dann unwohl mit ihrem Körper und es hat einen Einfluss auf ihr künftiges Sexualleben.

Wenn sie in dieser Weise gegenseitig spielen, sage ich: "Nein, so nicht." Ich sage es sanft und ohne daraus ein großes Thema zu machen. Das mag für sie vielleicht etwas herausfordernd sein, weil sie sich sonst mit ihren Körpern sehr wohl fühlen. Verhalte ich mich richtig?

Jesper Juul antwortet:
Zunächst kann ich Ihnen versichern, dass sich viele Eltern in der gleichen Situation befinden. Es ist in der Tat schwierig, als Elternteil damit umzugehen, nämlich das prinzipielle Wissen mit der wirklichen Erfahrung zu vereinen.

Ihr Ansatz ist aber der beste Weg. Einer meiner guten Freunde, der Kinderpsychologe Mogens A. Lund, sieht das ähnlich: Ihm zufolge liegt es in der elterlichen Verantwortung, eine Atmosphäre für ihre Kinder zu schaffen, in der es ihnen möglich ist, sich natürlich zu entwickeln. Dieses Umfeld unterstützt die Kinder dabei, Vertrauen und gegenseitiges Verstehen zu entwickeln. Das ist die Grundlage dafür, durch Erfahrung zu lernen. Kinder lernen dabei über die Zeit, nuanciert und treffsicher ihren Bedürfnissen und Wünschen Ausdruck zu verleihen. Eltern sollten ihre Kinder so respektieren, wie sie sind: als gefühlvolle, körperbetonte und zu einem späteren Zeitpunkt auch sexuelle menschliche Wesen.

Bis zu einem Alter von etwa drei bis vier Jahren verstehen Kinder noch nicht, dass sie unterschiedlich sind. Erst einige Jahre später wird ihnen bewusst, dass andere Menschen dieselbe Situation gleich oder unterschiedlich empfinden können. Zu diesem Zeitpunkt beginnen sie zu verstehen, dass jedem Menschen das Recht zusteht, für seine Überzeugungen zu sprechen, und jeder ein Anrecht auf seine persönliche Integrität hat.

Allerdings sollten Erwachsene (in den meisten Fällen sind es die Eltern) für einen geschützten Raum sorgen, in dem Kinder Erfahrungen sammeln und sich in ihrer Sexualität entwickeln können. Das gilt sowohl für ihre eigenen Erfahrungen als auch für jene mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten - ohne dass die Erwachsenen eingreifen. Die Freiheit zu experimentieren sollte eine echte Freiheit sein. Auch ein "Verschwinde!" und eine Ablehnung müssen respektiert werden. Kinder müssen lernen, dass es in Ordnung ist, jemanden zu mögen und dessen Nähe zu spüren. Dass es aber auch okay ist, jemanden nicht zu mögen und deshalb mit einem "Nein!" zurückzuweisen.

Kinder sollten erfahren, dass lustvolle Momente okay und ein natürlicher Teil ihres Lebens sind. Das ist wichtig. Es sollte ihnen möglich sein, selbst frei zu experimentieren. Natürlich im Rahmen der elterlichen Werte: Sagen Sie Ihrem Kind ruhig, was Sie für angemessen halten. Zum Beispiel: "Das ist etwas sehr Privates. Es ist für mich in Ordnung, wenn du das zu Hause machst, aber nicht in der Öffentlichkeit."

Jeder Mensch braucht einen gewissen Grad an Reife, um Vertrauen zu zeigen, um zu geben und die Kontrolle über seine Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse zu behalten. Das kann man lernen. Manche Menschen haben damit ihr ganzes Leben lang Schwierigkeiten. Wir müssen fähig sein, eine andere Person mit ihren Gefühlen, Wünschen, Bedürfnissen und Interessen wahrzunehmen und nicht nur als ein Objekt, das zur persönlichen Befriedigung dient.

Jede angemessene und gute sexuelle Beziehung bedingt Gleichberechtigung und Übereinstimmung. Das gilt sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Die Art, wie Ihre Kinder spielen, ist absolut normal. Es gibt keinen Grund zu der Befürchtung, dass ihr gegenwärtiges Verhalten zum Geschlechtsverkehr führt, so wie wir ihn als Erwachsene verstehen. (Jesper Juul, derStandard.at, 17.2.2013)