Der Niederländer Hans Clevers erzählte in Wien, dass sich der menschliche Darm alle vier bis fünf Tage komplett erneuert.

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Man mag es ihm nicht auf den ersten Blick ansehen, doch der Dünndarm ist zweifellos ein Meisterwerk der Natur. Seine Innenseite, das Epithel, ist überzogen von zahllosen kleinen Ausstülpungen - den Darmzotten, auch Villi genannt. Sie dienen vor allem zur Nährstoffaufnahme. Ähnlich wie Haare wachsen Villi ständig nach. Ihre Länge ändert sich sogar je nach Nahrungsangebot. In mageren Zeiten werden sie kürzer, das Wachstum wird gebremst.

An der Basis der Darmzotten finden sich die Krypten, winzige Höhlen mit einer ganz eigenen Struktur. Die Kryptenwände bestehen aus sich rasch teilenden Epithelzellen, während im unteren Bereich Stammzellen und die merkwürdigen Paneth-Zellen ihre Aufgaben verrichten. Letztere wurden bereits im 19. Jahrhundert vom Wiener Arzt Joseph Paneth entdeckt. Paneth-Zellen bilden antibakterielle Substanzen und halten so die Krypten keimfrei. Aber sie erfüllen auch noch ganz andere Funktionen, zugunsten einer stetigen Verjüngung des Verdauungsorgans. Der niederländische Immunologe Hans Clevers und seine Kollegen sind den Geheimnissen dieser Darmregeneration auf der Spur.

STANDARD: Stammzellen aus dem Dünndarm stehen im Mittelpunkt Ihrer Forschungsarbeit. Warum gibt es solche Zellen überhaupt in der Darmwand?

Hans Clevers: Es hat sich gezeigt, dass all unsere Gewebe sich selbst reparieren und erneuern können. Dafür braucht es Stammzellen, und jedes Organ hat seine eigenen. Die Haut zum Beispiel erneuert sich komplett innerhalb von 40 bis 50 Tagen, der Darm alle vier bis fünf Tage. Pro Tag bilden sich dabei 100 Gramm neue Zellen. Der Darm ist somit der Meister der Selbstregeneration. Dementsprechend muss es dort besonders aktive Stammzellen geben, aber das bedeutet auch, dass schnell etwas schiefgehen kann.

STANDARD: Wie werden diese Regenerationsprozesse reguliert?

Clevers: Man spricht diesbezüglich von homöostatischer Selbstregeneration. Sie ist darauf ausgerichtet, genauso viele Zellen zu produzieren, wie gebraucht werden. Dieses Wachstum wird von den sogenannten Paneth-Zellen, hauptsächlich über die Produktion von speziellen Botenstoffen, den Wnt-Proteinen, angeregt. Die Stammzellen teilen sich umso stärker, je mehr Wnt-Proteine freigesetzt werden. Die Homöostase wird somit durch die Paneth-Zellen gesteuert. Sie sind also nicht nur die Leibwächter, sondern auch die Versorger und Mentoren der Stammzellen.

STANDARD: Kann das schnelle Zellwachstum auch zur Bildung von Tumoren führen?

Clevers: Ja. Eine einzige Mutation in der DNA der Stammzellen sorgt dafür, dass sie sich weiter teilen - wie bei einem defekten Heizungsthermostat. So entsteht ein Polyp. Den kann man per Endoskopie erkennen und entfernen. Bis aus einem Polypen ein Tumor wird, vergehen zehn bis 15 Jahre, und es müssen noch weitere DNA-Schäden eintreten. Sich ungebremst teilende Zellen gehen beim Kopieren des Erbguts schlampig vor. Die Anzahl der Mutationen nimmt so schneller zu.

STANDARD: Wo liegen die anfänglichen Ursachen für die Mutationen?

Clevers: Bei jeder Teilung können nun einmal Fehler passieren. Dieses Risiko kann durch den Verzehr von gefährlichen, mit Chemikalien belasteten Nahrungsmitteln steigen, aber in unseren westlichen Ländern ist das fast nie der Fall. Wir glauben, dass man die Darmkrebsgefahr nicht über die Diät beeinflussen kann. Eine Ausnahme sind die besonders krebserregenden Aflatoxine, Schimmelpilzgifte, die auch in Erdnüssen vorkommen. Gefährliche Stoffe sind oft natürliche Stoffe.

STANDARD: Sie haben ein System zur Kultivierung von Darmstammzellen entwickelt. Wie funktioniert das?

Clevers: Nachdem wir die Darmstammzellen identifiziert hatten, stellten wir völlig erstaunt fest, dass man sie einzeln aus dem Darm entnehmen und in einer Petrischale zum Teilen bringen kann - mithilfe von künstlich hergestellten Wnt-Proteinen aus genetisch veränderten Säugetierzellen. Nach ungefähr sechs Wochen entstanden zahlreiche Mini-Därme, nur wenige Millimeter groß. Insgesamt rund 10 Milliarden Zellen. Einige der Zellgebilde haben wir tiefgekühlt nach Japan verschickt. Dort haben Wissenschafter sie bei an Darmentzündung erkrankten Mäusen über den After eingepflanzt. Die Mini-Därme suchten selbstständig die Löcher in der Darmwand und füllten diese auf. Die Mäuse wurden gesund. Ein Teil von ihnen lebt noch immer.

STANDARD: Könnte künstlich hergestelltes Darmgewebe zukünftig auch bei Menschen zu Transplantationszwecken eingesetzt werden?

Clevers: Das ist viel komplizierter, und ein Mensch ist natürlich viel größer als eine Maus. Wir haben denselben Trick allerdings bei Leberzellen von Mäusen getestet, und da gelang es auch. Man könnte also Leberzellen kultivieren und diese durch die Pfortader einschleusen, um Leberschäden zu behandeln. Das wäre medizinisch gesehen viel wichtiger als die Transplantation von Darmgewebe, weil Lebererkrankungen häufiger sind. Bis eine solche Methode jedoch bei Menschen eingesetzt werden kann, vergehen zehn bis 15 Jahre. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 08.05.2013)