ERC-Präsidentin Helga Nowotny meint, dass nicht nur in Österreich allen das Hemd des Bauern näher als der Rock der Wissenschaften ist. Das sei in jeder Demokratie so. "Alle lieben Forschung - an 364 Tagen im Jahr, mit Ausnahme des einen Tages, an dem über das Forschungsbudget entschieden wird."

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STANDARD: Wie gut steht Europas Forschung 2013 im globalen Vergleich da? Und wie hat sie sich in den letzten zehn Jahren im Vergleich zu den anderen großen Wissenschaftsnationen entwickelt?

Nowotny: Europas Forschung kann sich global durchaus sehen lassen. In der Anzahl wissenschaftlicher Publikationen liegen wir sogar vor den USA, allerdings nicht in der Anzahl der zehn Prozent Veröffentlichungen, die am meisten zitiert werden. Doch das ändert nichts darin, dass sowohl Europa wie die USA relativ gesehen bei diesem für die wissenschaftliche Leistungsmessung wichtigstem Indikator zurückfallen – einfach, weil die wissenschaftlichen Neuankömmlinge in Südostasien, aber auch Brasilien kräftig zulegen.

STANDARD: Welche Rolle konnte dabei der von Ihnen geleitete Europäische Forschungsrat spielen, der seit mittlerweile über sechs Jahren Spitzenforschung in Europa fördert?

Nowotny: In der Grundlagenforschung haben wir gemerkt, dass Europa weiter an Attraktivität gewinnt. Ich will uns, also den ERC, nicht selbst loben, doch es ist unbestritten, dass der ERC ein "game changer" ist – es ist der ERC, der jetzt das Spiel in der europäischen Spitzenliga bestimmt. Es war eine mutige Entscheidung der Politiker vor sieben Jahren, dieses Instrument zur Förderung der Grundlagenforschung in die Hände von 22 Wissenschafter zu legen und sich zu verpflichten, die von ihnen getroffenen wissenschaftlich strategischen Entscheidungen zu implementieren. Uns kommt auch zugute, dass die Spitzenstellung der USA durch die dortigen politischen Turbulenzen etwas geschwächt wurde – siehe etwa die letzte Initiative von Lamar Smith im US-Kongress, mit dem die ganze exzellenzbasierte Forschungsförderung infrage gestellt wird. Kurzum, viele Kollegen in den USA blicken bewundernd und mit etwas Neid auf das, was der ERC in Europa erreicht hat.

STANDARD: Seit einigen Jahren steht Europa unter dem Bann einer Finanz- und Wirtschaftskrise, die vor allem die Länder Südeuropas getroffen hat. Wie wirken sich die Sparmaßnahmen dort auf die Wissenschaft aus?

Nowotny: In Spanien, wo wirklich großartige Fortschritte gemacht worden waren, stehen derzeit die bisher getätigten Investitionen auf dem Spiel. Eine ganze Generation talentierter wissenschaftlicher Nachwuchs wird im Regen stehen gelassen oder ist gezwungen auszuwandern. Griechenland hat im Augenblick einfach andere Probleme, und das Ausmaß der ganzen Tragödie macht vor der Wissenschaft nicht Halt. Für Italien wünsche ich mir, dass die Krise dort zu umfassenden Strukturreformen genützt würde. Es gibt ja dort fantastisch gute Forscher und ebenso großartige Forschungseinrichtungen. Doch Italien hat ein doppeltes Defizit: Es fehlt an der Anerkennung und gezielten Förderung von wissenschaftlicher Exzellenz. An vielen Universitäten herrscht nach wie vor ein Klientelismus. Das zweite Problem ist eine gravierende Unterfinanzierung der Forschung und Universitäten. Italien liegt weit unter dem europäischen Durchschnitt in seinen Forschungs- und Bildungsinvestitionen.

STANDARD: Führen diese Entwicklungen nicht dazu, dass sich – zumal die vom ERC geförderte – Spitzenforschung in Europa regional noch ungleicher verteilt als bereits jetzt?

Nowotny: Der ERC ist nur ein Instrument von mehreren, europäischen wie nationalen. Der ERC bewirkt zwar einige strukturelle Veränderungen, wie beispielsweise den erstmals durch die Reputation des ERC eingetretenen Wettbewerb zwischen europäischen Universitäten und Forschungsorganisationen. Doch können wir weder finanziell noch auf andere Weise die Rahmenbedingungen verändern, unter denen in Europa geforscht wird. Was der ERC jedoch den Ländern anbietet, die nicht gut abschneiden, sind "soft measures", also Hilfestellung durch Information und Beratung.

STANDARD: Reicht das?

Nowotny: Ich sage oft, dass der ERC wie ein Spiegel funktioniert, in dem die einzelnen Länder ihre Stärken und Schwächen erkennen können. Die letzteren zu beseitigen muss allerdings auf nationaler Ebene angegangen werden. Es bleibt zu hoffen, dass mit "Horizon 2020," dem nächsten EU-Forschungsrahmenprogramm, die verschiedenen Instrumente noch besser ineinander greifen werden. Ein Manko, das sage ich ganz offen, ist die fehlende Verknüpfung mit den Strukturfonds. Diese wären besonders für die leistungsschwächeren Regionen eine Möglichkeit, ihre Forschungsinfrastruktur aufzubauen. Das funktioniert noch viel zu wenig. Auch politisch wurde dieses Potential noch zu wenig erkannt – in Brüssel ebenso wenig wie in den nationalen Hauptstädten.

STANDARD: Frauen waren bei den bisherigen ERC-Geförderten auffällig stark unterrepräsentiert. Nun gibt es für Forscherinnen und Forscher mit atypischen Karriereverläufen die Förderschiene "Consolidator Grants". Ist damit das Problem gelöst?

Nowotny: Der ERC ist, so paradox dies klingen mag, in den letzten Jahren zu einer nahezu perfekt funktionierenden Evaluierungsmaschinerie geworden, mit allen Vor- und Nachteilen. Wir können auf der einen Seite eine noch immer wachsende Zahl an Einreichungen nach gewohnt professionellen und höchsten Qualitätsansprüchen begutachten lassen. Die Nachteile sind – und ich sage das durchaus selbstkritisch –, dass sich dabei immer auch Routinen einschleichen. "Best practice" beinhaltet, auch wenn das nicht gewollt ist oder abgestritten wird, so etwas wie ein "Idealbild" eines erfolgversprechenden Nachwuchsforschers oder einer -forscherin. Dieses korreliert mit dem Idealbild einer erfolgreichen Karriere und birgt das Risiko, dass jene mit untypischen Karriereverläufen durchfallen. Das Scientific Council des ERC tut alles, um das zu verhindern, denn wir wissen: Oft sind es gerade die Personen mit einem untypischen Karriereverlauf, die mit den spannendsten, innovativsten, und produktivsten Fragestellungen kommen.

STANDARD: Sie haben vor fast 20 Jahren in einem Buch mit Kollegen skizziert, dass eine neue Art der Erkenntnisproduktion, die eher projektorientiert, interdisziplinär und eher außeruniversitär erfolgt, die traditionellen Forschungsstrukturen ablösen wird. Sehen Sie diesen Trend auch durch die Gewinner von ERC-Grants bestätigt?

Nowotny: Ja und nein. Der ERC ist auf projektbasierte Bottom-up-Forschung ohne thematische Vorgaben konzentriert. Es bleibt daher ganz dem Einzelnen überlassen, aus welchen Forschungsfeldern oder in welcher Kombination die bahnbrechenden neuen Ideen kommen sollen. Übrigens verwenden wir das Wort "interdisziplinär" nicht mehr, da alle unsere Begutachtungspanels eine Vielzahl von Disziplinen vertreten. Wir sprechen daher von "cross-panel" oder "cross-domain", wenn es um Projekte geht, die etwa Physik und Biologie, oder Neurowissenschaften und Ökonomie vereinen. Wir haben jedoch im letzten Jahr ein Experiment mit einem relativ geringem Budget gestartet: den Synergy Grant. Dieser ermöglicht es bis zu vier Antragstellern ein gemeinsames Projekt einzureichen, in dem komplementäre Ansätze, Methoden und Erfahrung eine synergetische Wirkung entfalten sollen. Das Ganze muss also weit mehr sein als die Teile. Wir werden sehen, ob und in welchem Umfang die Budgetsituation ab 2014 eine Fortsetzung dieses innovativen Programms erlaubt. Was die Trägerorganisationen anbelangt, so bleibt die Spitzenforschung vorwiegend an den Universitäten oder an außeruniversitären Forschungsinstituten wie etwa jenen der Max Planck Gesellschaft oder dem IST Austria beheimatet.

STANDARD: Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Rolle der Universitäten im 21. Jahrhundert – zumal in Sachen Forschung – entwickeln?

Nowotny: Universitäten werden weiterhin die Einrichtungen der Spitzenforschung bleiben. Allerdings wird es zu einer viel stärkeren Differenzierung zwischen Forschungsuniversitäten, mit einem internationalen Forschungsprofil, und allen anderen kommen. Denn was ist heute eine "Universität"? Unter diesem Label werden heute Institutionen erfasst, die inzwischen unterschiedlichste Forschungs- und tertiäre Bildungsaufgaben erfüllen, die entweder spezialisiert sind oder als "Volluniversität" bis zu 80.000 Studierende betreuen sollen, die oft sich selbst überlassen bleiben und zum Großteil selbst finanzieren oder eine (meist staatliche) Basiszuwendung erhalten, und so weiter. Insofern wird sich die Differenzierung zwischen den Universitäten weiterhin verstärken, wobei die Rolle und Sichtbarkeit der Forschungsuniversitäten zunehmen wird.

STANDARD: Als ERC-Präsidentin haben Sie sich erst zuletzt wieder für Open Access stark gemacht, also den freien und kostenlosen Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen. Warum halten Sie das für so wichtig?

Nowotny: Wenn ich kurz meine Rolle als Wissenschaftsforscherin einnehmen darf: Da ist Open Access für mich ein faszinierender Gegenstand, wo verschiedene Interessen, nicht nur wissenschaftlicher, sondern auch kommerzieller, politischer und moralischer Natur aufeinanderprallen. Ich finde diese Perspektive auch deshalb wichtig, weil sie deutlich macht, dass es nicht so einfach ist, alles auf Open Access umzustellen. Gegen Ende dieses Jahres findet übrigens in Berlin eine Konferenz statt, an deren Vorbereitung ich beteiligt bin, die zehn Jahre nach der "Berlin Declaration" Bilanz über die bisherigen Erfahrungen ziehen, aber auch einen Ausblick auf die weiterhin offenen Probleme geben wird.

STANDARD: Wo sehen Sie da die Probleme? Und wie könnte, wie sollte in fünf Jahren wissenschaftlich publiziert werden?

Nowotny: Davon gibt es eine ganze Reihe: Wie sollen wissenschaftliche Gesellschaften, die sich zum Teil über ihre Zeitschriftenabos finanzieren, mit Open Access umgehen? Was ist mit den Monografien, die in den Geisteswissenschaften ja immer noch eine wichtige Rolle einnehmen? Was machen wir, wenn Wissenschafter, die einen Artikel in einem renommierten Open-Access-Journal publizieren wollen, das dafür notwendige Geld für das "Author Payment System" nicht aufbringen können? Was, wenn das Geld für dieses System auch vom Staat kommt und so das Forschungsbudget beschneidet? Und was ist mit all den neu gegründeten Open-Access-Journals, die im Augenblick wie die Pilze aus dem Boden schießen? Quis custodiet ipsos custodos - wer aber wird die Wächter selbst bewachen? Diese Aspekte müssen alle berücksichtigt werden, wurden sie doch in der bisherigen Diskussion zu oft zur Seite geschoben. Das ändert nichts daran, dass ich politisch Open Access für unabdinglich halte, und dass ich hoffe, dass es in fünf Jahren die maßgebliche Form des Publizierens sein wird.

STANDARD: Zurück zur jüngeren Vergangenheit: Die Verhandlungen für das nächste EU-Budget waren zäh. Sie selbst haben sich mit den drei Präsidenten der EU getroffen und mit dem ERC mehr als 150.000 Forscher mobilisiert, um eine Petition gegen Kürzungen bei der Forschung zu unterzeichnen. Wird der erzielte Kompromiss für eine gedeihliche Zukunft des ERC und der Forschung in Europa reichen?

Nowotny: Die "No Cuts on Research"-Initiative war so erfolgreich wie keine andere Kampagne für die Wissenschaften zuvor. Verantwortlich waren aber nicht wir vom ERC, sondern die "Initiative for Science in Europe" (ISE) und die "Young Academy in Europe" (YAE), denen ich an dieser Stelle auch danken möchte. Immerhin haben wir damit die Aufmerksamkeit der Entscheidungsträger gewonnen. Und unterm Strich steht ein realer Anstieg des Forschungsbudgets im nächsten Mehrjahresbudget der Europäischen Kommission. Auch wenn die Details noch nicht ganz gewiss sind: Der ERC wird die nächsten sieben Jahre weiterhin exzellente Forschung in Europa fördern können. Gleichzeitig befürchte ich jedoch, dass es in etlichen europäischen Mitgliedstaaten zu weiteren Kürzungen des nationalen Forschungsbudgets kommen wird und somit deren Befähigung, sich im europäischen Wettbewerb erfolgreich zu beteiligen, gekappt wird.

STANDARD: Der österreichischen Regierung war bei den EU-Budgetverhandlungen das Hemd der Bauern anscheinend näher als der Rock der Wissenschaft. Wie sehen Sie das, als Österreicherin und als ERC-Präsidentin? Fehlt es da auch am Lobbying der Wissenschaft?

Nowotny: Alle lieben Forschung. Zumindest an 364 Tagen im Jahr, mit Ausnahme des einen Tages, an dem über das Forschungsbudget entschieden wird. In einer repräsentativen Demokratie ist allen das Hemd näher als der Rock, nicht nur bei uns. Apropos Bauern: Ich finde es ganz interessant, dass der österreichische Landwirtschaftsminister jetzt verstärkt beforschen lassen will, was er zuvor auf EU-Ebene aus Mangel an Evidenz nicht wahrhaben wollte.

STANDARD: Österreich ist immerhin – zumindest laut Eurobarometerumfragen – Europameister bei der Geringschätzung der Grundlagenforschung und Spitzeneiter bei der Technologieskepsis. Woher kommt das?

Nowotny: Dass die Biene den Österreichern besonders am Herz liegt, kommt wohl daher, dass es ein österreichischer Forscher war, der die Bienensprache "entdeckt" hat, was bis heute jedes Volksschulkind lernt. Die ist eines der wenigen Beispiele, wo erfolgreiche Forschung in Österreich als solche wahrgenommen und im positiven Sinne popularisiert wird. Nun ist das Eurobarometer, sozialwissenschaftlich gesehen, ein eher grob gestricktes Umfrageverfahren. Aber es stimmt schon: die Gleichgültigkeit gegenüber Forschung in Österreich sitzt tief. Das ist meines Erachtens eine Spätwirkung der Hochschulpolitik.

STANDARD: Welche Hochschulpolitik meinen Sie da genau?

Nowotny: Man hat, im Grunde seit den 1920er Jahren, die Hochschulen und die Forschung immer mehr von der Gesellschaft abgekapselt. Dann kam die Vertreibung oder Ermordung der vorwiegend jüdischen Wissenschafter unter dem Nationalsozialismus. Nach dem Krieg stand die Forschung jahrzehntelang unter konservativer Kuratel. Die Demokratiereform in den 1970ern, so notwendig sie auch war, hat dann zu einer Selbstbeschäftigung in den Uni-Gremien geführt – wieder wurde die Öffnung zur Gesellschaft verpasst. Mit der Unireform 2002 gibt es neue Ansätze und Anreize, aber die Gefahr ist, dass jetzt alles in ein Kosten-Nutzen-Kalkül gezogen wird.

STANDARD: Sehen Sie auch positive Entwicklungen?

Nowotny: Auf der positiven Seite ist sicher anzumerken, dass in den letzten Jahren verstärkt eine internationale Öffnung stattgefunden hat, die, so bin ich überzeugt, die jüngere Generation zu kritischen Produzenten von Wissen und zu kritischen Anwendern neuer Technologien werden lässt.

STANDARD: In Österreich tätige Forscher – davon etliche aus dem Ausland – haben sich bei den zugesprochenen ERC-Förderungen im guten Mittelfeld behauptet. Was müsste getan werden, damit sich diese Bilanz weiter verbessert?

Nowotny: Der Wissenschaftsfonds FWF leistet hervorragende Arbeit, obwohl er am unteren Limit seines Budgets operieren muss. An den Unis wurde in den letzten Jahren viel Positives bewirkt, wenngleich die Nachwuchsförderung in einigen Bereichen immer noch wenig Priorität bekommt. Und ich sehe auch im zuständigen Ministerium, dass innovative, exzellente Forschung institutionell belohnt wird. Das IST Austria ist ein hervorragendes Beispiel wie wissenschaftliche Exzellenz innerhalb kürzester Zeit erbracht werden kann. Was jedoch am meisten fehlt, weil es am meisten bewirken würde, ist, die vorhandenen Kräfte zu bündeln.

STANDARD: Heuer werden es 40 Jahre, dass Österreicher das letzte Mal einen wissenschaftlichen Nobelpreis erhielten. Wie lange wird es Ihrer Schätzung nach noch dauern, bis es wieder so weit sein wird?

Nowotny: Jedenfalls nicht noch einmal 40 Jahre.  (Klaus Taschwer/DER STANDARD, 28. 5. 2013)