Eigentlich sollte hier eine ganz andere Geschichte stehen. Aber dann fand sich kein Foto von Tony Nagy. Vor Ort, im Laden, war er auch nie. Und schließlich bedauerte Michaela Nagy, dass sie das passende Bild ihres Vaters schlicht nicht habe – und so rasch auch nicht werde machen können. "Ich gehe davon aus, dass mein Vater nicht mehr ins tägliche Geschäft zurückkehren wird. Er ist ab Juli in der Reha. Das Geschäft läuft in der nächsten Generation."

Die aktuelle Mannschaft auf der 30-Jahr-Feier. Rechts Michaela Nagy, ganz links ihr Bruder Benjamin, daneben Alexandra, Florian und Mario.
Foto: http://www.tonys-laufshop.at

Auf Deutsch: "Elvis has left the building." Und zwar, ohne dass es irgendjemand gemerkt hätte – außer all jene, die seit April vergebens nach "dem Tony" Ausschau hielten, wenn sie in die Praterstraße kamen. Eine Legende hat abgedankt. Hoch verdient: Mit 70 Jahren und nach über 30 Jahren im Dienste der Sache. Der Sache des Laufschuhs.

Dass Läufer aus Wien Tony Nagy nicht kennen, ist eher unwahrscheinlich. Schließlich landete jeder, der in dieser Stadt schneller als gehend per pedes unterwegs ist, irgendwann bei ihm. "Tony's Laufshop" – das ist der Laden, vor dem seit fast 20 Jahren das Denkmal eines Läufers steht. Das ist zwar nicht Tony Nagy selbst, aber irgendwie doch. Schließlich brachte Nagy den Wienern bei, wo der Unterschied zwischen Laufschuhen richtigen Laufschuhen liegt. Damit wurde er zum Monument seiner selbst. Zu Lebzeiten.

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Freilich: Der Tony ist – oder: war – nicht jedermanns Typ. Das war ihm recht. Auch die Taliban wollen nicht Everybody's Darling sein. Und auch wenn Tony Nagy natürlich niemandem Hände (oder Füße) abhacken würde: Er war ein Lauf-Taliban. Man konnte über vieles mit ihm reden, nur nicht über Laufschuhe.

(Nagy ist – das nur nebenbei – nicht der einzige Schuh-Messias in Wien. Es gibt da zum Beispiel auch Hans Blutsch im sechsten Bezirk. Der Mann mit dem Geschäft im ersten Stock eines Bürgerhauses in der Liniengasse ist ebenfalls eine Legende. Auch er ist einer, mit dem man nicht über Schuhe diskutiert, sondern dem man blind vertraut. Vertrauen kann. Aber da Blutsch nicht in Pension geht, bekommt Nagy hier ein Solo.)

Nagy war unerbittlich. Er kannte kein Grau, kein Bunt. Er war exakt, autoritär und penibel. Ob diese drei Vokabel ihn halbwegs beschrieben, fragte ich ihn einmal. Er brauste auf: "Viel schlimmer: Ich bin ein Fanatiker!"

Das war kein Witz: Verglichen mit Tonys Schuh-Mission hat der Papst in Sex- und Moralfragen batzweiche Wischiwaschi-Standpunkte: "Wer mir sagt, dass es ihm beim Schuh auf Farbe, Marke oder Preis ankommt, den schicke ich weg. Sonst würde ich grob fahrlässig handeln und Menschen gefährden. Ich hole ja auch Medikamente nicht nach Farbe und Form aus der Apotheke."

Wenn Kunden ehrfurchtsvoll sagten, dass Händler wie Blutsch oder Nagy Schuhe nicht verkaufen, sondern verschreiben, verstand Nagy das nicht als Kompliment, sondern als sachliche Feststellung. Das schlug sich keineswegs damit, dass der Kunde bei ihm König war: "Ein König bekommt nur das Beste. Bloß: Woher soll er wissen, was das ist?"

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Zum Laufen kam "der Tony" so wie jeder andere Mensch auch: als Kind. Er tat es einfach, freudig und notgedrungen: In Tardos, seiner ungarischen Heimat, gab es keine Busse. "Zum Fußballplatz waren es 13 Kilometer. 13 hin und dann 13 wieder zurück." Später, in Wien, lief der gelernte Messtechniker in die Fabrik. "In den 60er Jahren wurde man als Läufer auf der Hauptallee wie ein Irrer angesehen."

Ein anderer "Spinner" brachte aus Italien futuristisch aussehende Schuhe und Hosen – und Tony Nagy erkannte zwei Dinge: erstens, dass er nicht alleine war. Und zweitens, dass da Bedürfnisse existierten: "In den Sportgeschäften wollte man mir immer nur Beckenbauers Dress verkaufen." Bei Schuhen war es ähnlich: "Es gab Puma und Adidas – den Rest habe ich nach Österreich geholt." Und aus dem Messtechniker Tony Nagy wurde "der Tony".

Nagy ließ seine Kunden nicht selbst aussuchen, er beriet – intensiv, wenn man es höflich sagt. Wirklich mitzureden hatte man wenig. "Wenn mir der Kunde seine Schuhgröße sagen muss, habe ich meinen Beruf verfehlt – und spätestens bei Breite oder Risthöhe ist der Kunde ohnehin ahnungslos."

Tony war auch der erste Händler, der Kunden in Wien aufs Laufband stellte und Videoanalysen machte. Wie viele Füße Nagy da in 30 Jahren gesehen hat? "Zigtausende." Seine Expertise galt: "Mir schicken auch Orthopäden Patienten, die beim Laufen Schmerzen haben. Weil ich – ich betone: ausschließlich beim Laufen – sofort sehe, wo das Problem liegt." Oft – eigentlich meistens – war die Diagnose simpel: "Falscher Schuh. Und das über Jahre."

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Nagy war nie nur Zuseher: Bis knapp vor seiner Operation im April lief er täglich von daheim ins Geschäft. Und: Nein, er wohnt nicht im Nachbarhaus. Bei seinen Mitarbeitern legte er seit jeher die gleichen Maßstäbe an: "Ein Marathon pro Jahr. Fünf große Events. Und Fachwissen: Keine Frage darf offen bleiben." Von Rekorden bis zum Aufbau der Schuhe.

Tony konnte aber auch Hersteller zur Verzweiflung treiben: "Ich stelle bei jeder Lieferung alle Schuhe vor mir auf und schaue mir jeden einzelnen genau an – rund die Hälfte schicke ich gleich wieder zurück." Was mit diesen für Laien absolut fehlerlos wirkenden Schuhen passierte? "Die kriegen Sie dann in den großen Ketten. Oder im Outletcenter. Zum gleichen Preis, aber ohne Beratung."

Servicediebstahl? Nagy hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Nicht nur für Schuhe. Wer sich ausführlich beraten ließ und dann nicht kaufte, kam auf seine Watchlist: "Wenn so einer 'Auf Wiedersehen' sagt, antworte ich 'Lieber nicht'." Obwohl: "Sie kommen wieder: Die Schmerzen treiben sie wieder zu uns, den Spezialisten." Und dann hieß es Abbitte leisten. Tony war aber nicht herzlos – und hatte auch (fast) Mitleid mit Ketten und Diskontern: "Bei dem Personal, das dort meist arbeitet, haben die doch gar keine Chance."

Im Mai 2013 feierte Tony's Laufshop 30. Geburtstag. Eigentlich hätte Nagy dann am 13. Juni, seinem 70. Geburtstag, in Pension gehen wollen. Aber dann kam ihm – ausgerechnet ihm – eine Knieverletzung dazwischen: Im April wurde er operiert, jetzt ist er den Sommer über auf Reha. "Es geht ihm gut", sagt Michaela Nagy, Tonys 30-jährige Tochter.

Foto: http://www.tonys-laufshop.at

Seit dem Frühjahr führt die gelernte Hotelfachfrau den Laden – und weiß, dass sie da in große Schuhe schlüpft. "Keiner von uns kann je an ihn herankommen. Über Jahrzehnte aufgebautes Know-how kann man nicht einfach übernehmen." Heute, weiß die Tochter, habe man es aber leichter, dennoch Qualität anzubieten: "Mein Vater hat Pionierarbeit geleistet, in jeder Hinsicht. Darauf bauen wir, darauf baut eine ganze Branche auf."

Abstriche beim Anspruch mache sie daher keine, betont sie. Sie gehe höchstens ein wenig diplomatischer mit Kunden um: Schließlich werden idente Laufschuhmodelle mittlerweile oft in mehreren Farben angeboten. Und auch das Diktum vom verpflichtenden jährlichen Marathon sei eventuell strenger rübergekommen, als es sich im Alltag angefühlt habe: "Unser Betriebsausflug geht traditionell nach Florenz. Jedes Jahr – zum Marathon."

Ganz, erklärt Michaela Nagy, müsse Wien aber ohnehin nicht auf "den Tony" verzichten: "Schon vor der Reha ist er, obwohl kaum mobil, hin und wieder ins Geschäft gekommen. Das ist sein Lebenswerk: Dass sich einer wie er da weiter einbringt, ist doch klar."

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Ein kleinen Seufzer kann die Jungchefin nicht ganz vermeiden: "Für uns wird das vielleicht manchmal ein bisschen mühsam, aber gleichzeitig weiß jeder von uns: Auf all das, wofür mein Vater steht, was er weiß und was er uns mitgeben kann, können weder wir noch Menschen, die gute Laufschuhe suchen, verzichten." (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 3.7.2013)