In China zu essen ist für nichtsahnende Ausländer wie mich mitunter etwas geheimnisvoll und widersprüchlich. Wenig führt einem das so drastisch vor Augen wie Dim-Sum-Essen in Guangzhou. Die Stadt liegt im Pearl River Delta nahe Hongkong und ist die drittgrößte Chinas nach Peking und Shanghai. Sie ist auch die Hauptstadt der Provinz Kanton (offiziell: Guangdong). Hier steht der zweitgrößte TV-Turm der Welt (610 Meter), die Oper wurde von Zaha Hadid, gebaut und die neue Innenstadt, die es vor sechs Jahren noch nicht gab, erinnert ein wenig an New York, bloß größer und leerer.

Stadtbekannte Fresstempel verstecken sich hier manchmal im sechsten Stock von völlig unauffälligen Häuser. Wenn man dann aus dem kleinen, nicht beschrifteten Lift tritt, steht man in einem Vorraum, in dem gut hundert Menschen auf einen Tisch warten. Andere Restaurants wiederum erstrecken sich über acht Stockwerke ganzer Blocks. Trotzdem sind sie von außen für Ausländer kaum als Restaurants zu erkennen, weil ihr Eingang mehr nach Varieté oder Theater aussieht: Neonschilder, Kassiere, seltsame Fotos von Bühnenstars.

Selbst die Inneneinrichtung feinerer Etablissements erinnert gern an ukrainische Werkskantinen: Speisehallen mit grellem Neonlicht (weshalb Essen zu fotografieren nicht so recht funktioniert), Fernsehern mit Werbeclips und Plastikpflanzen. Dann aber beginnt das Dim-Sum-Fressfest, und man wundert sich, wie eine Kultur, die solch raffiniertes, feines Essen samt Zeremoniell hervorgebracht hat, mit einer solchen Ästhetik zurechtkommen kann.

Dim Sum zu essen ist das kantonesische Äquivalent zum Brunch – eine eher vage definierte Mahlzeit, die irgendwann zwischen 6 Uhr früh und 4 am Nachmittag, tendenziell aber am Wochenende als spätes Frühstück eingenommen wird. Mich schreckt das Wort "Brunchen" sonst eher, weil es unangenehme Assoziationen mit erkalteten All-you-can-eat-Buffets, Hotelketten und Lounge-Musik weckt. Die Bewohner Guangzhous aber haben Brunchen zu einer eigenen Kunstform erhoben und zur Perfektion gebracht.

Foto: Tobias Müller

Es gibt wenig Schöneres im Südwesten des Landes zu tun, als stundenlang in einer der Dim-Sum-Hütten herumzuhängen und vor lauter Köstlichkeiten gar nicht zu wissen, wo man seine Stäbchen zuerst hinstrecken soll.

Dim Sum heißt übersetzt ungefähr "eine Kleinigkeit essen" und soll in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Teehäusern Guangzhous entstanden sein: Die Kellner servierten den Teetrinkern neben dem Mahjong-Spielen und Philosophieren kleine Happen auf Wagen, nicht unähnlich den südspanischen Tapas. Heutzutage bezieht sich die "Kleinigkeit" eher auf die Portionsgröße denn auf die Gesamtmenge des Gegessenen: Wer mit einem Kanton-Chinesen ins "Teehaus" geht, der sitzt schnell vor einem Berg an Essen, der einen um die eigene Gesundheit bangen lässt.

Kantons Köche sind im Rest des Landes einerseits dafür verschrien, alles zu verkochen, was sich nur irgendwie verdauen lässt – die Mär des aus dem lebenden Affen gelöffelten Gehirns etwa wurde erfunden, um den ungezügelten Appetit des Kanton-Chinesen zu karikieren. Entsprechend abwechslungsreich gestaltet sich ein Besuch eines hiesigen Marktes. Andererseits aber gelten Kanton-Köche mitunter als die talentiertesten im ganzen Land. Sie würzen weit weniger intensiv denn ihre Kollegen aus dem scharfen Nordwesten. Und statt scharf anzubraten, dämpfen sie lieber – das soll sicherstellen, dass der Geschmack der Zutaten möglichst erhalten bleibt.

Entsprechend sind auch Dim Sum hauptsächlich dampfgegart und kommen sehr oft in Dampfkörbchen auf Wachspapier zu Tisch. Besonders beliebt sind verschiedene Formen von gefülltem Dampfbrot und Teigtaschen, dampfgegartes Fleisch und Gemüse. Daneben gibt es Frühlingsrollen, Gegrilltes und, in Guangzhou ganz wichtig, Reis-Congee mit diversen Einlagen. Die Sehnsucht nach Süßem wird mit in der Pfanne gebratenen Fruchtgelees und süß gefüllten Knödeln bedient.

Der Tee mag im Laufe der Jahrzehnte ein wenig in den Hintergrund getreten sein, und Teehaus ist eine unangemessene Bezeichnung für die riesigen Dim-Sum-Fresstempel – aber Tee ist immer noch integraler Bestandteil des Zeremoniells. Er ist das Erste, was der Gast bestellt, sobald er sich zu Tisch gesetzt hat, und das Letzte, was die eifrigen Kellner abservieren – lange nachdem die Rechnung beglichen wurde.

Foto: Tobias Müller

Die Kellner bringen zuerst ein Stövchen, eine Wasserkanne, Teeblätter und ein Teebrett – eine Art Becken mit löchrigem Deckel – samt Brühkanne, Gießkanne und Tassen. Die Teeblätter werden in die Brühkanne gefüllt und einmal aufgegossen, um sie zu waschen – dieser erste Durchgang wird also nicht getrunken, sondern ins Teebrett gekippt. Wer heißes Wasser sparen will, verwendet den Sud, um die Tassen zu waschen und sie dabei vorzuheizen.

Der zweite Aufguss darf fünf bis zehn Sekunden ziehen und wird anschließend durch ein Sieb in die Gießkanne umgefüllt (damit der Tee nicht weiterzieht), aus der schließlich in die Tassen eingeschenkt wird. (Der Kanton-Chinese benutzt zudem das heiße Teewasser, um seine Essstäbchen und seine Schüssel zu waschen. Der Teller wird nicht gesäubert – er dient ausschließlich als Müllplatz für diverse Knochen.)

Je nach Tee variiert idealerweise das Geschirr – Glas für Blüten- und manche Grüntees, Porzellan für Schwarztees, Ton für fermentierten Pu'er – und die Wassertemperatur. Die winzigen Tassen wirken anfangs etwas sonderlich – aber die fragilen Teile nur anzugreifen holt den Teetrinker schon heraus aus seinem gedankenlosen Trott und schärft seine Sinne für das, was da kommen mag.

Ich durfte mehrmals im berühmten und ziemlich großen "Guangzhou Restaurant" Dim Sum speisen und dabei unter anderem genießen:

Har Gow, Shrimpteigtaschen: Der Weizen- und Maisteig ist ein wenig durchsichtig und verführerisch klebrig-geschmeidig, die Shrimps darin erstaunlich knackig, fest und süß.

Foto: Tobias Müller

Eine winzige, hauchdünne Scheibe Bambussprosse sorgt für den perfekt ausbalancierten Geschmack – ein Gedicht. Wer will, tunkt seine Tasche in eine recht scharfe Chilisauce. Erfunden haben soll den Traum ein Teehausbesitzer, dessen Restaurant direkt am Fluss stand – und daher perfekten Zugang zu den Shrimpfischern der Gegend hatte.

Chang Fen, Reisnudelrollen, mit verschiedenen Auflagen: Chang Fen sind nicht nur ein Teil des Dim-Sum-Repertoires, sondern für sich genommen auch ein beliebtes Straßenfrühstück in Guangzhou. Aus Reismehl wird per Hand ein Teig geknetet, dieser wird gerollt, in eckige Stücke geschnitten, mit Fleisch bestreut und am Tisch mit Sojasauce übergossen.

Foto: Tobias Müller

Chang-Fen-Teig ist dicker, dafür seidiger und weniger klebrig als jener von Har Gow, es ist ein exquisiter Genuss, auf ihm herumzukauen. Ich habe ihn einmal mit Rind gegessen, einmal mit Kutteln und einmal mit Barbecue-Schwein in Honigsauce. Mir Innereienfresser waren die Kutteln mit ihrem knackigen Biss am liebsten. Der Name heißt übersetzt "Darmnudeln", was mich bei der ersten Bestellung – "Einmal Darmnudeln mit Schwein, bitte" – etwas anderes als das dann Servierte erwarten ließ. Die Überraschung war aber durchaus positiv.

Cha Shao, gedämpfte Schweine-Buns: fast so beliebt und verbreitet wie Chang Fen. Die Füllung besteht aus fast zu Brei gegartem Schwein, das mit Honig, Sojasauce, Austernsauce und Sesamöl gewürzt wird.

Foto: Tobias Müller

Gemeinsam mit dem fluffig-frischen Brotteig bildet diese cremige Masse eine herrliche Einheit – Comfortfood mit einem ähnlichen Wohlfühlfaktor wie getrüffeltes Erdäpfelpüree oder heißer Bohneneintopf an einem kalten Wintertag. Weniger subtil als die Vorgänger, aber zum Eingraben gut.

Shao Mai: Eine weitere Form der gedämpften Teigtasche, kompakter als Har Gow, wenn auch der Teig meiner Meinung nach weniger Raffinesse hat. Meine Variante war gefüllt mit Schwein und, für die Farbe, einer mir unbekannten Art von Roggen, der eine angenehme Fischnote beisteuerte.

Reis-Congee: ebenfalls auch außerhalb der Dim-Sum-Tempel ein Klassiker des Kanton-Frühstücks. Ein wässriger Reisbrei, der je nach Geschmack und Vermögensstand unverfälscht gegessen oder mit allerlei Einlagen aufgepeppt wird. Meine Highlights: "Boot-Congee", das seinen Namen der Tatsache verdankt, dass es früher von fahrenden Händlern auf Booten auf dem Pearl River verkauft wurde. Der Reis wird hier mit Flussfisch, Eistich und stundenlang weich gekochter Schweinehaut gemischt und mit Frühlingszwiebeln und einer Idee Ingwer gewürzt – herrlich. Und "Congee nach lokalem Geschmack", Reisbrei mit Miniaal und wieder einer zarten Ingwernote, fischig, erfrischend, und, dank frisch geschlachteten Miniaals, mit erstaunlich viel Kaupotenzial für einen Brei.

Foto: Tobias Müller

Chizhi Feng Zhao, Hühnerfüße: Die Leibspeise von Jenny, die mein Guide in Sachen Dim Sum ist. Der Chinese kennt viele Arten, Hühnerfüße zuzubereiten, diese hier hat mich bisher am meisten überzeugt: Die Füße werden erst frittiert, dann in einer süßen Sauce weich gekocht und schließlich mit fermentierten Sojabohnen und ein wenig Chili gedämpft und serviert. Die Haut wird durch diesen Prozess cremig-weich und saugt sich mit all den Geschmäckern voll, so dass sie genussvoll von den Knochen gepuzzelt werden kann.

Foto: Tobias Müller

Die extreme Beliebtheit dieses Gerichts (beziehungsweise des Hühnerfußes im Allgemeinen) zeigt eindrucksvoll des Chinesen Obsession mit vielfältigen Konsistenzen und seine Freude am (und sein Talent für) Nagen, Zuzeln und Nuckeln. Wenn Jenny einen Knochen ausspuckt, ist dieser blitzblank geputzt. Ich kann das leider noch nicht von mir behaupten.

Chi Zhi Pai Gu, gedämpfte Spareribs: wieder eher etwas für die Zuzelfraktion, da nicht unbedingt fleischreich. Die Rippen werden erst in Mehl gewendet, dann kurz gebraten und schließlich gedämpft, bevor sie ebenfalls mit Chili und fermentierten Sojabohnen serviert werden.

Foto: Tobias Müller

Vor allem die Bohnen – laut Jenny Abfall der Sauce-Produktion – sind ein Genuss: ein kräftig-spannender Geschmack, wie ihn nur kontrollierte Verrottung hervorbringen kann.

Wasserkastanien-Püree, gebraten: Ich habe leider vergessen, Jenny nach dem chinesischen Namen zu fragen, und wie man es genau macht, wusste sie auch nicht (sie mag keine Süßigkeiten) – fest steht, es schmeckt hervorragend.

Foto: Tobias Müller

Das Jelly wird in Scheiben geschnitten und in der Pfanne gebraten, was es ein wenig karamellisieren lässt und ihm zarte Röstaromen verleiht. Es ist nicht übermäßig süß, und die Wasserkastanien-Stücke mittendrin peppen die Konsistenz gewaltig auf.

Gedämpfte Teigtaschen mit Mandeln: Außen unauffällig-flauschig wie so viele chinesische Knödel, innen mit einer cremigen Zucker-Mandel-Masse gefüllt, die an Marzipan erinnert. Nett, aber nicht ganz so umwerfend wie der Rest.

Mein Dank gilt Jenny, dem vielleicht verfressensten und daher für mich besten Guide in Guangzhou. Und den Machern von Waygo, einer App, die chinesische Speisekarten übersetzt – fast immer hilfreich, immer wieder sehr amüsant. Und sollten Sie jemals in China unterwegs sein: Synotrip.com ist eine hervorragende Seite, um kompetente, nette Menschen zu finden, die Sie für relativ wenig Geld durch die Gegend führen. (Tobias Müller, derStandard.at, 21.7.2013)