Bild nicht mehr verfügbar.

Der Boom des Interviews begann erst nach 1945. Hier steht - oder besser: sitzt - Albert Einstein 1953 Rede und Antwort.

Foto: Bettmann/CORBIS

Anke te Heesen sieht im Verhör und der Beichte zwei Wurzeln des Interviews.

Foto: privat

STANDARD: Die Medien - egal ob Zeitungen, das Radio oder das Fernsehen - sind heute voll von Interviews mit wichtigen und nicht so wichtigen Personen des öffentlichen Lebens. Seit wann ist das so?

te Heesen: Wenn Sie Zeitungen oder Zeitschriften aufschlagen, die vor hundert Jahren erschienen sind, dann werden Sie darin keine Frage-Antwort-Interviews finden, so wie wir es hier führen. Nichtsdestotrotz wurden Originaltöne von Interviews in der Presse in den USA seit den 1830er-Jahren in Porträts eingearbeitet, um diese authentischer erscheinen zu lassen. Das konnten Texte über Politiker sein, die ihre Meinung kundtaten, oder auch Texte aus dem Gerichtssaal, wo die Zitate durchaus auch dazu beitrugen, dass der Text sensationsheischender wurde. Aber es ging auch darum, politische Information zu transportieren.

STANDARD: Wann hat man damit begonnen, Gesprächen mit Frage und Antwort so viel Raum und Zeit zu geben?

te Heesen: Der Siegeszug des Interviews, so wie wir es heute aus der Zeitung kennen, beginnt nach 1945 in einer Art Parallelführung von Radio und Fernsehen und der Printmedien. Aus dieser neuen Konkurrenzsituation zwischen den verschiedenen Medien wurde die Gattung Interview in den 1960er-Jahren noch einmal ganz neu erfunden. Diskussionen über das Interview als Genre und die Rolle des Interviewers gab es aber schon ab 1900 in den beginnenden Zeitungswissenschaften.

STANDARD: Was hat man damals diskutiert?

te Heesen: Damals ging es vor allem um das professionelle Selbstverständnis von Journalisten, und ihre Rolle wurde klarer definiert: Sie waren nicht mehr bloß Überlieferer des Gesagten, sondern sie mussten durch ihre Fragen erstens zeigen, dass sie gleichrangige Gesprächspartner sind, und zweitens, dass sie die Materie kennen und gut vorbereitet sind - also kein Sprachrohr bestimmter Interessen.

STANDARD: So etwas wie das kritische Interview war damit aber noch nicht gemeint?

te Heesen: Das ist jünger, da haben Sie recht. Im deutschsprachigen Raum kam das erst in den 1950er-Jahren mit dem "Spiegel" als politischem Magazin auf, erlebte eine erste Blütezeit in den 1960er-Jahren und gehört seitdem zum festen Repertoire journalistischer Praxis. Das "Spiegel"-Gespräch hatte dabei durchaus eine Art von kanonisierender Wirkung, bis hin zur Wendung am Schluss: "Wir danken Ihnen für das Gespräch." Dieser Satz weist nicht zuletzt auch darauf hin, dass sich hier Journalisten und Experten in einer nichthierarchischen Weise begegnen.

STANDARD: In letzter Zeit gab es zum Teil heftige Diskussionen um die Autorisierung von solchen Interviews durch die Befragen oder ihre Mitarbeiter. Ist wenigstens das eine Erfindung jüngeren Datums?

te Heesen: Nicht wirklich. Solche Autorisierungen von Interviews kamen schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, als Politiker begannen, so etwas wie Berater zu beschäftigen. Heute würde man Pressesprecher dazu sagen. Eine der berühmtesten Affären trug sich allerdings bereits 1908 zu - die "Daily Telegraph"-Affäre. Der deutsche Kaiser führte damals im Urlaub mehrere private Gespräche mit einem Oberst, in denen sich Wilhelm II. zum Teil sehr undiplomatisch über die Engländer äußerte. Der "Daily Telegraph" schickte das Interview zur Bestätigung nach Berlin, wo es nicht wirklich gegengelesen wurde, weil die Zuständigen auf Urlaub waren - und dann war der Skandal perfekt. Mittlerweile ist das natürlich eine eingespielte Routinepraxis, die dafür sorgt, dass solche Dinge kaum mehr passieren.

STANDARD: Sie haben sich bei Ihrer Antrittsvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin vor allem mit dem Interview in der Wissenschaft befasst. Ab wann spielt das Interview als Forschungsmethode eine Rolle?

te Heesen: Das passierte fast zeitgleich mit der universitären Institutionalisierung solcher neuer Disziplinen wie der Ethnologie oder der Soziologie. Rund um 1900 erscheinen erste Publikationen, in denen das Interview als Methode beschrieben wird, um zu Wissen über den Menschen zu kommen. In den Lehrbüchern und Einführungen werden detaillierte Angaben darüber gemacht, wie man Interviews zu führen hat oder wie man sich als interviewender Forscher in einem Bergdorf verhalten soll, ohne dass man Misstrauen erweckt und mit einem Spion oder Geistlichen verwechselt wird. Es werden aber auch praktische Anleitungen gegeben, welche Fragen man stellen darf und wie man das Gesagte aufzeichnen sollte.

STANDARD: Welche Ratschläge gab es denn damals? Mitlaufende Tonbänder - wie bei uns jetzt - hatte man um 1900 ja noch gar nicht.

te Heesen: Die entscheidende Frage war, wie man die Interviews protokollieren kann und soll, ohne dass der Interviewte quasi ob der Autorität des mitschreibenden Bleistifts verstummt. Es ging also immer auch um das Verstecken des Aufzeichnungsmediums, das im Normalfall Papier und Bleistift war. Es gab tatsächlich Zeiten, als große Angst vor dem Interview herrschte, was sich leicht erklären lässt: Mit der Beichte und der medizinischen Anamnese stellt vor allem das Verhör eine seiner drei Wurzeln dar.

STANDARD: Trotz dieser gemeinsamen Wurzeln werden Interviews in den Medien und der Wissenschaft heute im Normalfall ganz anders geführt, aufgezeichnet und weiterbehandelt. Wie war das um 1900, als diese Bereiche noch nicht so stark getrennt waren?

te Heesen: Das war von Disziplin zu Disziplin sehr verschieden. In der Volkskunde wird das Interview in der Zeitung überhaupt nicht als Konkurrenz gesehen, sondern schon als etwas ganz anderes wahrgenommen. In der Soziologie hingegen gibt es sehr spannende Wechselverhältnisse, vor allem dann in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren. Frühe Soziologen wie Georg Simmel, Robert Ezra Park oder Siegfried Kracauer haben ja auch für Zeitungen gearbeitet haben, und ich würde argumentieren, dass es damals eine Art wechselseitiger Befruchtung gab.

STANDARD: Können Sie konkrete Beispiele dafür nennen?

te Heesen: Denken Sie etwa an Kracauers Untersuchung über die Angestellten aus dem Jahr 1930 oder die klassische soziografische Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" 1933. Diese Arbeiten müssen meines Erachten unbedingt auch im Zusammenhang des Aufkommens sowohl der sozialwissenschaftlichen Enquete wie vor dem journalistischen Hintergrund des aufkommenden Feuilletons gelesen werden. Dort wird eine Art von "dichter Beschreibung" entwickelt, die auf soziologische Studien rückwirkte. Ein absoluter Höhepunkt ist in dem Zusammenhang die Marienthal-Studie ...

STANDARD: ... in der ja auch ausführlich Gebrauch von Interviews gemacht wird.

te Heesen: Allerdings in einer besonderen Form, nämlich getarnt als Gespräche. Die Studie erforscht die Lage der Arbeitslosen eben gerade nicht nur mit klassischen soziologischen Methoden wie dem Fragenbogen-Interview. Die Sozialforscher übernahmen auch konkrete Jobs in Marienthal und führten dann etwa als Ärzte Gespräche mit den Betroffenen und kamen so zu sehr viel detaillierteren und dichteren Beschreibungen der verheerenden Auswirkungen der Arbeitslosigkeit.

STANDARD: Nach 1945 waren es dann die Historiker, die das Interview mit Zeitzeugen für ihre Zwecke entdecken, wie Sie in Ihrer Vorlesung ausführten.

te Heesen: Richtig, die Oral History legte dann im Laufe der 1960er-Jahre los, und es ist wohl kein Zufall, dass damals auch der tragbare Kassettenrekorder auf den Markt kam. Das Interviewen von ganzen Eltern- und Großelterngenerationen gleichsam als moralische Tat ist ohne diese neuen technischen Aufzeichnungs- und damit auch Archivierungsmöglichkeiten nicht denkbar. Das gilt aber auch für die damals entstehenden neuen sozialen Bewegungen, egal ob das nun der Feminismus war oder Stadtteilbewegungen: Auch da spielten alternative Gesprächs- wie Aufzeichnungs- und Dokumentationsformen eine wichtige Rolle.

STANDARD: Nichthistoriker kennen solche Zeitzeugen-Interviews vor allem aus dem Fernsehen - von Steven Spielberg bis Guido Knopp. Wann kamen die als audiovisuelles Genre auf?

te Heesen: Eine prägende Rolle spielte das Projekt "Shoah" von Claude Lanzmann, an dem er elf Jahre lang, nämlich von 1974 bis 1985, arbeitete. Das Interessante dabei ist, dass Lanzmann in seinem neunstündigen Film als Interviewer meist mitaufgenommen ist. Deshalb sind die Interviewsituationen und sein Film auch so viel reichhaltiger als all das, was danach kam. Bei Spielberg - und dann bei Epigonen wie Knopp - entwickelte sich eine vereindeutigende Ikonografie des Zeitzeugen-Interviews: Die werden heute stets vor schwarzem Hintergrund ins Bild gerückt und liefern nur mehr O-Töne.

STANDARD: In den letzten Jahren ist es im akademischen Betrieb der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften eine Mode geworden, Interviewbände zu veröffentlichen. Haben Sie dafür eine Erklärung?

te Heesen: Das hat erstens sicher damit zu tun, dass die Zeitabschnitte, die wir analysieren, immer näher an uns heranrücken. Für jemanden, der über die 1980er-Jahre arbeitet, ist es naheliegend, Interviews mit Protagonisten zu führen und damit eine zusätzliche Quelle einzubringen. Der zweite Grund ist meiner Ansicht nach, dass sowohl im Forschungsinterview wie auch im medialen Gespräch atmosphärische Authentizität eine zentrale Rolle spielt. Drittens schließlich geht es heute auch in vielen Experteninterviews weniger um Wissenschaft als um Wissen, das so individualisierter und personalisierter erscheint.

STANDARD: Besonders viele Interviews scheint es in den letzten Jahren in der Kunst und der Kunstgeschichte zu geben - oder täuscht der Eindruck?

te Heesen: Nein, in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst ist in den letzten Jahren sicher am meisten mit Interviews gearbeitet und über das Interview geschrieben worden. Das begann im Grunde bereits mit dem Künstler Andy Warhol, der 1969 mit der Zeitschrift "Interview" das erste Magazin gründete, in dem es fast nur Interviews gab. Heute ist das beste Beispiel wohl das riesige Projekt des Schweizer Kurators Hans-Ulrich Obrist, der seit den 1990er-Jahren Gespräche mit zeitgenössischen Künstlern, Architekten, Filmemachern, Wissenschaftlern, Philosophen und Musikern führt. In beiden Fällen wird das Interview auch als eine Kunstform und deshalb der Informationsgehalt eines solchen Wortwechsels diskutiert. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 14.8.2013)