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Schlechte Aussichten für das Schneehuhn: In den kommenden 50 Jahren könnte es aufgrund der steigenden Temperaturen 70 Prozent seines Lebensraumes in den Alpen einbüßen.

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Der Moos-Steinbrech ist perfekt an die eisige Kälte im Hochgebirge angepasst. Die  Polsterpflanze scheint auch dem Klimawandel zu trotzen.

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Saxifraga bryoides ist ein hübsches Gewächs - und ein überaus zähes. Die auch als Moos-Steinbrech bekannte Polsterpflanze gedeiht auf kargen Schuttflächen und Felsen in Höhen von rund 1900 bis über 3000 Metern. Weder Wind noch eisige Kälte können ihr etwas anhaben. Sie blüht im Juli und August, wenn es im Hochgebirge kurzfristig reichlich Insekten zur Bestäubung der kleinen weißen Blumen gibt, doch die Art kann sich auch ungeschlechtlich über Rosettenableger vermehren. Die dicken Blättchen der Pflanzen speichern Wasser und schützen diese so vor Austrocknung. Perfekte Anpassung an einen sehr unwirtlichen Lebensraum.

Der Moos-Steinbrech ist ein typischer Vertreter der hochalpinen Flora, und diese gilt bei vielen Experten als zunehmend bedroht. Durch die Klimaerwärmung, so befürchtet man, könne es den spezialisierten Spezies in ihren angestammten Lebensräumen schlichtweg zu heiß werden. Die Pflanzen müssten in höhere Regionen ausweichen. Irgendwann führe diese Flucht allerdings ins Leere, wodurch Saxifraga bryoides und zahlreichen anderen Arten das Aus drohe. Ähnliches gelte für diverse Tiere. Ein gewaltiger Verlust an Biodiversität, der vielerorts ganze Ökosysteme radikal verändern würde.

Neue Gipfelstürmer

Die Umwälzungen werden indes nicht nur Verlierer hervorbringen. Im Süden des Uralgebirges zum Beispiel melden Fachleute bereits deutlich sichtbare Verschiebungen der Waldgrenze - nach oben, versteht sich. Bäume und Sträucher erobern Areale, die ihnen bislang aufgrund der harschen Klimabedingungen versperrt blieben. Auch weitere, eher wärmeliebende Pflanzenarten treten verstärkt zum Gipfelsturm an.

In einem bereits 2012 erschienen Fachartikel in Nature Climate Change berichtet die internationale "Gloria"-Arbeitsgruppe über europaweite Veränderungen in der Gebirgsvegetation. An Kälte angepasste Spezies werden seltener, während diejenigen mit einer Vorliebe für höhere Temperaturen zahlenmäßig zunehmen. "Diesen Prozess bezeichnet man als Thermophilisierung", erklärt der Gloria-Projektleiter Harald Pauli vom Institut für Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien.

Wie schnell ein derartiger Wandel vonstattengehen kann, hat ein Schweizer Forscherteam nun im Rahmen einer landesweiten Untersuchung aufgezeigt. Die drei Biologen Tobias Roth, Matthias Plattner und Valentin Amrhein basierten ihre Studie auf Datenmaterial, welches zwischen 2003 und 2010 für das eidgenössische Programm zum Monitoring der Artenvielfalt gesammelt wurde.

Es enthält genaue Angaben über das Vorkommen von Tieren und Pflanzen in hunderten, überall in der Schweiz verteilt liegenden Testflächen mit einer Oberfläche von einem Quadratkilometer. Die Wissenschafter werteten die Daten zum Auftreten der Pflanzen-, Schmetterlings- und Vogelarten in insgesamt 214 dieser Quadranten statistisch aus.

Die Analyse weist vor allem in den etwas tiefer liegenden Lagen um 500 Meter über Meereshöhe eine erstaunlich rapide Entwicklung nach. Die dort lebenden Pflanzenspezies sind in nur acht Jahren Zeit durchschnittlich acht Meter hangaufwärts gewandert. Bei den Schmetterlingen waren es im Mittel 38 Meter, die Vögel zog es sogar um 42 Meter weiter in die Höhe. Detaillierte Studienergebnisse wurden Anfang Januar im Online-Fachmagazin PloS One publiziert.

Unter den Gefiederten ist der Aufwärtstrend durchwegs bis in die Gipfelregionen erkennbar, berichtet Valentin Amrhein von der Universität Basel. Manche geraten vielleicht bald in Bedrängnis. Das Schneehuhn (Lagopus muta) zum Beispiel könnte Schätzungen zufolge in den kommenden 50 Jahren rund 70 Prozent seines Lebensraums in den Alpen einbüßen. Insgesamt jedoch muss die Biodiversität zumindest bei den Vögeln nicht abnehmen. "Andere Arten werden aus dem Süden nachkommen", sagt Amrhein. Laut Prognosen ist unter anderem bei der Verbreitung der Nachtigall mit einer Zunahme zu rechnen. Auch - wahrscheinlich erwärmungsbedingte - Verhaltensänderungen lassen sich immer häufiger beobachten. Mönchsgrasmücken und andere Zugvögel überwintern zunehmend in Mitteleuropa.

Für Pflanzen und Schmetterlinge in den Hochgebirgslagen zeigt die Studie von Valentin Amrhein und seinen Kollegen allerdings ein etwas schwerer interpretierbares Bild. In den oberen Regionen ist laut dieser Daten keine Thermophilisierung mehr nachweisbar. Mit anderen Worten: Die Lebensgemeinschaften dieser Organismen haben sich auf den Testflächen oberhalb von circa 1800 Metern im Untersuchungszeitraum nicht wesentlich verändert. Bei manchen Arten wie der eingangs erwähnten Saxifraga bryoides beobachteten die Forscher sogar eine geringfügige Ausbreitung hangabwärts. Statistisch signifikant ist diese gleichwohl nicht.

Kälterefugien in der Höhe

Das Phänomen lässt sich möglicherweise anhand des speziellen Charakters hochalpiner Habitate erklären. Steilhänge, Felsspalten, schattige Winkel und sonnenexponierte Stellen existieren dort in unmittelbarer Nähe zueinander.

Einige Botaniker und Ökologen sind der Meinung, dass diese Strukturvielfalt den kälteliebenden Pflanzenspezies (und den von ihnen abhängigen Insekten) bei Erwärmung Refugien bietet. "Wenn es einer Pflanze zu heiß ist, muss sie nur über die nächste Bodenwelle gehen", erklärt Valentin Amrhein. Ein Rückzug in größere Höhen wäre dann zumindest vorerst nicht nötig.

"Die Hypothese hat etwas", meint Harald Pauli, doch der ÖAW-Forscher warnt gleichzeitig vor zu viel Optimismus. "Für die extremen Höhenpflanzen wird es schon eng." Sie würden trotz Ausweichmöglichkeiten insgesamt an Siedlungsfläche verlieren, und auch die Bodenverhältnisse sind nicht an jedem Alternativstandort geeignet.

Abgesehen davon erhöhe sich der Konkurrenzdruck durch die Ausbreitung anderer Spezies. Auf der Pasterze am Großglockner zum Beispiel schafft es die seltene Alpen-Breitschote Braya alpina nicht, dem rasch zurückweichenden Gletscherrand schnell genug hinterherzuwandern, wie Pauli berichtet. Das Gewächs kann damit leicht von höherwüchsigen Pioniergräsern überrollt werden. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 22.1.2014)