Vor 20 Jahren schleifte die Gemeinde ein Dollfuß-Standbild in Ottakring - nun wackelt das Denkmal des Diktators auch in der ÖVP.

Foto: Rudolf Semotan

Er hängt in prominenter Nachbarschaft, gleich neben einem wuchtigen Kruzifix. In souveräner Pose, eine Hand lässig im Hosensack versenkt, wacht der Potentat über den Sitzungssaal, doch Andreas Khol schenkt ihm nur einen ungerührten Blick. "Bei mir zittert innerlich nichts mehr, wenn ich an 1934 denke", sagt der einstige Hausherr, als er die Ahnengalerie im ÖVP-Klub abschreitet: "Engelbert Dollfuß bleibt ein Säulenheiliger der Partei. Aber eine Verherrlichung bedeutet sein Bild nicht."

Es war Khol selbst, der darüber oft genug Zweifel aufkommen ließ. Einen "Märtyrer" und "Patrioten", den die ÖVP "in höchstem Ansehen" halte, hatte der ideologisch gefestigte Tiroler zu seinen Zeiten als Spitzenpolitiker Dollfuß genannt - und damit beim großkoalitionären Visavis blankes Entsetzen geerntet. Schließlich huldigte Khol damit einem Mann, den Sozialdemokraten in ganz anderer Erinnerung hielten: Als "Arbeitermörder", der 1934 mit Kanonen auf Gemeindebauten feuern ließ.

Den "Märtyrer" nehme er heute nicht mehr in den Mund, sagt Khol, der auch als Seniorensprecher seiner Partei keiner historischen Debatte aus dem Weg geht. Darüber hinaus steht er zu seinen Worten von früher, nur gelte es, Entscheidendes zu ergänzen: "Natürlich war Dollfuß ein Diktator, der einen Putsch und - heute würde man sagen - Staatsterrorismus zu verantworten hat." Er selbst habe nie eine andere Meinung gehabt, als hoher Funktionär aber einst die Haltung der Gesamtpartei repräsentieren müssen, sagt Khol. "In den alten Kadern gab es viel Bitterkeit darüber, dass Sozialdemokraten dem Dollfuß alles absprachen. Schließlich saßen von uns viele im nationalsozialistischen KZ, während Karl Renner seine Pension in Gloggnitz verspeiste."

Als "erster Blutzeuge" im Kampf gegen Hitler (Khol in den Neunzigern): So hatte sich Dollfuß im kollektiven Gedächtnis der ÖVP festgekrallt. Anders als die Sozialdemokraten, deren Galionsfigur Renner die Zukunft im gemeinsamen, wenn auch nicht nationalsozialistischen Deutschland sah, habe der christlichsoziale Kanzler bis zu seiner Ermordung durch die Nazis im Juli 1934 aufopfernd für Österreich gekämpft. Die Liquidierung der Demokratie geriet in diesem Narrativ zu einer Art Notwehrakt gegen braunen Terror und roten Extremismus. Hatten nicht die Sozialdemokraten bei Aufmärschen "Demokratie, das ist nicht viel, Sozialismus heißt das Ziel" skandiert?

Hitler den Weg geebnet

Tatsächlich habe die Radikalisierung der von Wehrverbänden durchsetzten Ersten Republik auch vor der Sozialdemokratie nicht haltgemacht, sagt Politologe Emmerich Tálos, beschränkt diesen Befund im Wesentlichen aber auf die verbale Ebene. Das oft als Sündenfall zitierte Parteiprogramm von 1926 erwog die proletarische Diktatur nur als letztes Mittel, falls die Bourgeoisie den Sozialismus mit Gewalt bekämpfe, während das Regime gezielt auf Ausschaltung des potenziellen Bündnispartners gegen die Nazis hingearbeitet habe. "Mit Nationalsozialisten ließ Dollfuß verhandeln, mit den Sozialdemokraten nicht", sagt Tálos: "De facto hat er Hitler den Weg geebnet."

Bis ins neue Jahrtausend hinein waren SPÖ und ÖVP unfähig, über all das offen zu diskutieren. Hätten sie die Ereignisse um das Jahr 1934 in der Zweiten Republik zum Thema gemacht, wäre die langjährige Zusammenarbeit unmöglich gewesen, sagt Tálos, denn dann hätten selbst ÖVP-Heroen wie Julius Raab und Leopold Figl ihre Verstrickung im Dollfuß-Regime hinterfragen müssen. Die Verdrängung des Konflikts habe somit eine Basis für die große Koalition gelegt - mit der Nebenwirkung eines unterbelichteten demokratiepolitischen Diskurses.

Unter diesem Deckel köchelten die Animositäten freilich weiter. Aufwallungen provozierte die schwarz-blaue Regentschaft, als Sozialdemokraten hinter Pilgerfahrten nach Mariazell oder Attacken gegen die autonome Sozialversicherung den Geist des kleinwüchsigen Autokraten aufblitzen sahen. Da ertönten schon einmal Schmährufe wie "Kholfuß" aus den roten Reihen im Parlament.

Schwarzes Gewissen

Doch die historische Nabelschau infolge von Opfer- und Restitutionsdebatten brachte auch Mythen der 1930er-Jahre ins Wanken. Schlechtes Gewissen ob der eigenen Traditionspflege vermeinte Karl Duffek im Gestus seiner Gastgeber zu erkennen, als er vor Jahren als vermutlich erster Sozialdemokrat Aug in Aug mit Dollfuß im VP-Klub referieren durfte. Mittlerweile hat die ÖVP ihr historisches Selbstverständnis so weit revidiert, dass es dem Direktor des Renner-Institutes "Bewunderung" abringt. Wenn Klubchef Reinhold Lopatka, Prototyp des Parteisoldaten, das Dollfuß-Porträt vom Heldenbild zum Mahnmal umdefiniere, sagt Duffek, "dann kann ich nur den Hut ziehen". Folge: Erstmals seit 50 Jahren gedenkt die rot-schwarze Regierungsspitze heuer gemeinsam den Opfern vom Februar '34.

Das bedeutet nicht, dass alle Differenzen ausgeräumt sind. Als der Nationalrat Ende 2011 die Rehabilitierung der Justizopfer des "Ständestaates" beschloss, durfte im Gesetz auf Betreiben der ÖVP nicht vom "Austrofaschismus" die Rede sein. Während Tálos in seinem 600 Seiten starken Buch über "das austrofaschistische Herrschaftssystem" (Lit-Verlag) die Berechtigung eben jener Charakterisierung nachzuweisen versucht, wittert Khol einen von der Linken geprägten "Kampfbegriff".

Er selbst spricht von einem "autoritären Regime", hinter dem Dollfuß' Bemühen stecke, Österreichs Unabhängigkeit zu retten. "Doch das ist ein erklärbares Motiv, aber keine Rechtfertigung. Die Sozialdemokratie war eindeutig das Opfer, der Ständestaat der Täter", betont Khol - und daran werde in der Partei auch nicht mehr herumgedeutet: "Die ÖVP hat ihre Scheuklappen abgelegt." (Gerald John, DER STANDARD, 8.2.2014)