Das wohl belgischste aller Gemüse wird von den Köchen des Landes dementsprechend in Ehren gehalten.

Foto: Georges Desrues

Chicorée wird in Hallen gezogen - damit es (außer bei der Ernte) auch immer schön dunkel ist.

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Zieht das Gemüse als einer der wenigen noch in der Erde statt in Nährflüssigkeit: Bauer Dirk Bergen.

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In der Erde herangezogen gilt der Chicorée als qualitativ hochwertiger, was sich auch auf den Verkaufspreis auswirkt.

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Die Knospe hat viele Namen. Auf Deutsch heißt sie Chicorée, was ganz offensichtlich aus dem Französischen stammt, wo der Begriff jedoch die Wurzel der Pflanze bezeichnet - und nicht etwa wie hierzulande ihre Knospe. Zu dieser sagen die Franzosen, wie auch die Engländer, "endive".

Die Italiener wiederum nennen sie "insalata belga" und die Schweizer Brüsseler, was beides auf ihren Ursprungsort verweist. Daselbst, nämlich im Königreich Belgien, einem sprachlich bekanntlich geteilten Land, sagen die französischsprachigen Wallonen verwirrenderweise weder "endive" noch Chicorée zu ihr, sondern "chicon."

Und die niederländisch-sprachigen Flamen Witloof, was so viel wie Weißblatt bedeutet. "Das stimmt aber auch nur bedingt", sagt Matthieu Beudaert, Koch und Besitzer des Sternerestaurants Table d'Amis in der Stadt Kortrijk, nahe der Grenze zu Frankreich, "selbst wir flämischen Köche verwenden häufig den Begriff 'chicon'".

Ein waschechtes Wintergemüse

Wie man sie auch nennen mag: Der Chicorée ist noch vor Kohlsprossen (Französisch: choux de Bruxelles, Englisch: Brussels sprout, Bundesdeutsch: Sprossenkohl) das wohl belgischste aller Gemüse. Dementsprechend hoch wird sie von den Köchen des Landes in Ehren gehalten und auf alle möglichen Arten - und nicht bloß als Salat - zubereitet.

Matthieu Beudaert zum Beispiel serviert sie gerne karamellisiert in braunem Rohrzucker und mit Szechuanpfeffer, und am liebsten als Beilage zu Wildgerichten oder Geflügel. Geschmacklich erinnern seine Chicorée ein wenig an Artischocken, mit - trotz des Karamells - überraschend ausgeprägten Bitternoten.

"Überraschend bitter?", wiederholt der Koch und zuckt mit den Schultern, "das liegt wohl daran, dass Sie noch nie echten Chicorée gegessen haben". Im Gegensatz zur handelsüblichen Ware seien seine Knospen nämlich ein waschechtes Wintergemüse, erhältlich ausschließlich in der kalten Jahreszeit, von November bis April. "Mit dem Chicorée, den man das ganze Jahr über im Handel findet, hat dieser nur sehr wenig zu tun", fährt Beudaert fort, "er kommt aus der Gegend um Brüssel, wo es höchstens noch ein gutes Dutzend Bauern gibt, die ihn auf diese Art anbauen."

Erde statt Nährflüssigkeit

Einer von ihnen ist Dirk Bergen, dessen Bauernhof in der Provinz Flämisch-Brabant liegt, 20 Autominuten entfernt vom Zentrum der Hauptstadt. An einem sonnigen Wintertag schiebt der Bauer ein schweres Metalltor auf, das in eine stockdunkle, weitläufige Halle führt. "Der Chicorée ist eine sogenannte Doppelkultur", erklärt Bergen, "zuerst werden im Frühjahr die Samen ausgesät, über den Sommer entstehen daraus Wurzeln, die wir dann im Herbst, vor dem ersten Frost, wieder ausgraben."

Danach werden die rübenähnlichen Wurzeln neuerlich in die Erde eingesetzt, diesmal per Hand und fein säuberlich aneinandergeschlichtet, anschließend mit Erde und einer Plane abgedeckt, bis in der Wärme und Dunkelheit nach circa drei Wochen die pralle, weiße Knospe entsteht. Das mit der Verdunkelung ist deswegen wichtig, weil sie das Gemüse vor Lichtkontakt schützt - und damit vor der Bildung von Chlorophyll, das die Farbe der Blätter dunkler machen und allzu viele Bitterstoffe darin erzeugen würde.

Bergen ist Chicorée-Bauer in vierter Generation, bereits sein Urgroßvater widmete sich dieser Form des Anbaus. "Früher machten das so gut wie alle hier in der Umgebung, jeder Hof hatte einen mehr oder weniger großen Verschlag, wo man Wurzeln eingrub, um mitten im Winter frisches, saftiges und vitaminhaltiges Gemüse zu ernten", erzählt er und hebt eine Plane, unter der bereits einige Spitzen zu sehen sind, die keck aus der Erde ragen.

Kaffee-Ersatz

Entwickelt wurde die Kultur des Chicorée ziemlich spät, nämlich erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Bereits zuvor, so ab Beginn des 19. Jahrhunderts, pflanzte man im Gebiet des heutigen Belgien verstärkt Zichorie-Wurzeln an, um sie zu zermahlen und während des Kaffeemangels unter Napoleons Kontinentalsperre Kaffee-Ersatz daraus zu erzeugen.

Irgendwann, es soll so um die Zeit der Gründung des unabhängigen Königreichs Belgien Anfang der 1830er-Jahre gewesen sein, hatte ein Bauer seine Zichorie-Wurzeln in einem dunklen Keller vergessen, als er für die Befreiung seines Vaterlands gegen die Holländer in den Krieg zog.

Andere Quellen berichten, er habe seine Ernte vor plündernden Soldaten verstecken wollen. So oder so: Irgendetwas Patriotisches war offenbar im Spiel, bevor der Mann die weißen Knospen entdeckte, was zum Ruf des Chicorée als belgisches Nationalgemüse zusätzlich beitrug. So zumindest will es die Legende.

Chefgärtner

Verbrieft ist indessen, dass um das Jahr 1850 der Chefgärtner des Brüsseler botanischen Gartens das Verfahren perfektionierte und damit begann, in seinen Kellern die weißen Knospen kommerziell zu ziehen. Bald darauf war dem wertvollen, knackigen Wintergemüse großer Erfolg in ganz Nordeuropa beschert.

Bis dann in den 1970er-Jahren die in landwirtschaftlichen Dingen so effizienten holländischen Nachbarn ein völlig neues Anbauverfahren entwickelten, das bedeutend weniger Arbeitseinsatz und weit höhere Erträge versprach. "Die Holländer steckten die Rüben einfach in Kisten mit warmem Wasser und lagerten sie übereinander in dunklen Räumen bei kontrollierter Temperatur und Feuchtigkeit", erklärt Bergen. Plötzlich gab es Chicorée zu jeder Jahreszeit.

Doch was man auf diese Weise an Aufwand, Zeit und Platz einsparte, ging auf Kosten von Geschmack und Konsistenz. "Naturgemäß bilden sich in einem keimfreien Wasserbad viel weniger Geschmacks- und Nährstoffe als in naturbelassener, reichhaltiger Erde", sagt Bergen. Und da die Knospen im Wasserbad auf keinen Widerstand treffen und sich nicht zu bemühen brauchen, um durch das Erdreich in Richtung Himmel zu sprießen, liegen ihre Blätter weniger dicht beieinander, wodurch sie auch nicht so knackig werden.

Geschmack früherer Zeiten

Der Verkaufspreis der in Erde angebauten Chicorée kann locker das zwei- bis dreifache der Knospen aus Wasserkultur erreichen, zumal sie vor dem Verkauf auch noch gründlich gereinigt werden müssen. "Natürlich sind sie teurer", sagt der Koch Matthieu Beudaert, "aber dafür schmecken sie nach mehr als hauptsächlich nach Wasser."

Zwar werden in Frankreich und Holland inzwischen weit größere Mengen Chicorée angebaut, doch konsumieren die Belgier bis heute mehr davon als irgendwer sonst.

Und als Nationalgemüse gelten sie sowieso nur in Belgien - dem einzigen Land, wo bis heute ein paar Idealisten unter großem Aufwand diese Urform der Knospe in offener Erde ziehen. "Es ist der Geschmack von früheren Zeiten", sagt der Bauer Dirk Bergen. Nämlich von Zeiten, in denen frisches Gemüse im Winter noch keine Selbstverständlichkeit war - und noch nicht alles ganzjährig erhältlich sein musste. (Georges Desrues, Rondo, DER STANDARD, 21.2.2014)

Die Reise wurde von Tourismuswerbung Flandern-Brüssel unterstützt.