"Die Milch ist für die Inder, was der Rotwein für die Franzosen ist". hat mir Anand erklärt. "Sie ist das erste, was wir essen, wir sind von der Geburt an abhängig von ihr." Anand betreibt einen Joghurt- und Milch-Shop gleich um die Ecke von Kolkatas New Market, einem der zahlreichen alten Kolonialbauten der Stadt.
Ich habe mich vergangene Woche hier herumgetrieben, bevor es im Sommer damit losgeht. Weil mich dieser Herr währenddessen zu Anand geführt hat, bleibe ich dem Milchthema noch einen weiteren Blog-Eintrag lang treu.
Man kann nur für die Franzosen hoffen, dass Anand die Bedeutung des Rotweins für sie überschätzt. Mit seiner Einschätzung zur Milch liegt er sicher richtig. Milch ist in Nordindiens Essen allgegenwärtig. Sie wird vergoren als Joghurt als Nachspeise gelöffelt oder zum Marinieren von Fleisch benutzt, eingekocht zu einer dicken graubraunen Paste, der Khoa, zu Süßigkeiten verarbeitet oder zum Würzen des Biryani, des klassischen Reiseintopfs verwendet, sie wird als Lassi zur Erfrischung geschlürft, in den Tee gekippt, mit Säure ähnlich wie Tofu zu Paneer geronnen, oder als Ghee, dem König der Milchprodukte, aufs Brot geschmiert oder in den Reis gegossen (Für Ghee gilt übrigens: je älter, desto besser und teurer).
Kolkatas Bewohner sind stolz darauf, dass ihre Stadt laut ihren Angaben den "größten Milchmarkt Asiens" beherbergt. Zwei Mal am Tag bekommt Anand von hier frische, rohe Büffelmilch geliefert. Weil es keine Kühlkette gibt, war die Milch wenige Stunden vorher noch im Euter. An einem normalen Tag fermentiert er in seinem Shop etwa 60 Liter zu Joghurt, während der Hochzeits-Saisonen sind es manchmal bis zu 200. Der Großteil geht an Hotels, den Rest verkauft er morgens bis elf und abends ab acht an seinem Stand.
Büffelmilch hat etwa 8 Prozent Fett (Kuh: meist 3,5 bis 5) und ist daher besonders gut geeignet zum Joghurt machen. Anands frisches Joghurt ist cremig und relativ fest, fast wie weicher Pudding, ganz leicht sauer von der Gärung, leicht süß vom Restzucker, voll und sehr milchig. Wer Anand fragt, was es für gutes Joghurt braucht, der bekommt eine einfache Antwort: gute Milch und gute Bakterien. Anand wäscht seine Hände in der Milch, bevor er sie kauft, um zu fühlen, ob sie seinen Standards entspricht. Seine Bakterienkulturen sind ererbt: Seine Familie macht in der vierten Generation Joghurt, die Kulturen wurden von den Eltern an die Kinder weiter gereicht.
Anands Shop ist, wie die meisten in Kolkata, zur Straße hin komplett offen – während es draußen derzeit etwa 30 Grad hat, hat es hinten, im Joghurtkoch-Raum locker 40. Dafür duftet es herrlich wie in einer Käserei. Der Prozess ist simpel: Über einem Gasbrenner lässt Anand seine Rohmilch langsam aufkochen, damit nichts anbrennt, gießt er immer wieder kalte Milch zur bereits erhitzten und rührt regelmäßig um.
Sobald sie wallt, wird sie in Terrakotta-Töpfe umgegossen. Anand verwendet dafür am liebsten alte Töpfe, in denen er bereits viel Joghurt gemacht hat: Weil sie von den Kulturen bewohnt werden und sich mit Milch vollgesogen haben, geben sie – wie die Holzbottiche beim Vorarlberger Bergkäse – besonders guten Geschmack. Er erwärmt die alten Töpfe auf dem Milchkochtopf, bis sie süß und leicht karamellisiert duften. In ihnen darf die wallende Milch dann etwa eineinhalb Stufen auskühlen, bis sie Körpertemperatur erreicht hat.
Dann kommt eine Löffelgriff-Spitze altes Joghurt in jeden Topf, um die Fermentation zu starten. Je nach Wetter und Temperatur dauert es zwischen zweieinhalb und vier Stunden, bis das frische Joghurt fertig ist. Zum Kochen macht Anand ein festes, saures Joghurt, das 24 Stunden, davon etwa 10 gekühlt, fermentieren darf.
Morgens und abends kommen die Kunden und holen sich ihr Joghurt gesüßt oder Natur zum Mitnehmen oder sie löffeln es auf einer Holzbank aus kleinen Terracotta-Töpfen vor Anands Stand. Wer fragt, dem mixt Anand mit einem Handmixer in einer Art Vase ein Lassi aus Joghurt, frischer Milch und Zucker. Wenn die Masse zur gewünschten zähflüssigen Konsistenz gerührt ist, packt er zur Draufgabe noch einige Brocken frisches Joghurt rein.
Abends, ab halb zehn, kommen die Kunden, meist ältere Männer, auf einen Terracotta-Pot warme, gezuckerte Milch vorbei, bevor sie schlafen gehen. Anand wärmt die Milch dafür in einer großen Metallpfanne, die er zuvor mit Khoa, dem eingekochten Milchteig eingeschmiert hat. Jedes Glas toppt er mit einem Löffel von dem süßen Schaum.
Während in Westeuropa (probieren sie das!) und den USA das Joghurtmachen gerade als Kunstform wieder entdeckt wird, ist es in Indien eher anders herum. Obwohl sein Laden gut besucht ist, weiß Anand nicht, wie lange er noch weitermachen will. "Das Milchgeschäft hat keine Zukunft", meint er. Immer mehr Menschen kaufen auch hier ihre Milch und ihr Joghurt in Packungen im Supermarkt. Stattdessen, sagt er, hat er begonnen, mit Immobilien und Autos zu handeln. (Tobias Müller, derStandard.at, 30.03.2014)