Trotz einer Milliarde Dollar Vermögen sieht sich Geschäftsmann und Fußballfan Brunello Cucinelli mehr als Behüter denn als Besitzer.

Foto: Brunello Cucinelli

Solomeo heißt das Dörfchen, in dem sich Cucinelli einige Träume verwirklicht hat: Theater, Kunstforum, zwei Boutiquen, Büros, eine Handwerksschule und noch mehr.

Foto: Brunello Cucinelli

Bekannt ist die Mode von Brunello Cucinelli vor allem durch eines geworden: Er holte das Material Kaschmir aus der konservativen Ecke.

Foto: Brunello Cucinelli

Die Fahrt vergeht flugs. Zwei Stunden dauert's von Rom nach Perugia, dann noch über zwei Hügel und unter ein paar Schäfchenwolken durch. Der Wagen hält im Königreich Solomeo. So heißt ein 500-Einwohner-Dörfchen in Umbrien, der kleinen Schwester der Toskana, die an diesem Frühlingstag für einen langen Sommer übt. Der König heißt Brunello Cucinelli, auch bekannt als König des Kaschmirs.

In seinen Diensten steht neben weltweit 1000 Mitarbeitern auch Chauffeur Averaldo. Er reckt und streckt sich, nachdem er aus dem Auto steigt. Seine Hände zeigen in alle Himmelsrichtungen. "Alles Cucinelli" ruft er. Alles, das ist das Dorf aus dem 14. Jahrhundert, das Cucinelli wieder herrichten ließ. Aber nicht nur. Wie ein zurechtgezupftes Nest thront es auf einem Hügel. Zu Solomeo gehören eine Kirche, Häuser wie aus einer Romeo und Julia -Kulisse, das Türmchen, der Dorfplatz, ein paar Gässlein. Auch ein Theater hat er hingestellt, der König. Doch damit nicht genug: Eine Bibliothek spendierte Cucinelli ebenso wie ein Forum der Künste. Daneben wurde ein "Philosophengarten" angelegt. Cucinelli hat's nämlich mit den Philosophen. Dazu später.

Oben, im ersten Stock von einem der Steinhäuser, sitzen 15 junge Frauen unter einem mittelalterlichen Gewölbe über Nähgerätschaften. Sie sind Schülerinnen in Cucinellis Handwerksschule. Hier trifft das iPad-Zeitalter auf altes Know-how. An den Wänden hängen Fotos von 007 Daniel Craig und Jude Law. Nicht weil sie fesche Kerle sind, sondern weil sie feinen Zwirn von Cucinelli tragen. "Alles Cucinelli", das sind ferner die Gärtnerschule, das Olivenöl, der Wein und die Bienen, die in Sachen Honig durch die Gegend summen. Fehlen nur die Ziegen, die dem Chef die Kaschmirwolle liefern. Doch das passende Klima für die zotteligen Tiere, das gibt's nicht in Umbrien. Einmal pro Jahr besucht Cucinelli die Ziegen also in der Mongolei.

Neben dem Parkplatz streicht ein Besen staccato über den Klinkerboden, ein alter Mann schwingt ihn. Aber nicht wegen ihm kommt dieses Solomeo irgendwie zu clean rüber. Keine Nonnos, die gestikulierend auf Bänken sitzen, keine Mamas, die Wäsche aufhängen. Die Geschichte wird erst wieder an diesen Ort zurückkehren müssen, mit oder ohne Klischees. So wie es Cucinelli tat, der sich hier im Heimatort seiner Frau Frederica niederließ.

Würde als eine Form des Geistes

Doch wer ist der Mann, der sich diesen Traum verwirklichte, der vom humanen Kapitalismus spricht, eine Vorlesung mit dem Titel "Die Würde als eine Form des Geistes" an der Universität von Perugia hielt? Einer, der hier 1978 mit ein paar Pullovern und ein paar hundert Euro Kapital startete, inzwischen 98 Geschäfte weltweit unterhält, ein Geschäftsmann, dem man die Aktien aus den Händen reißt und der im Zeitraum von Januar bis September 2013 einen Umsatz von mehr als 250 Millionen Euro erwirtschaftete - ein Plus von mehr als 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Um Brunello Cucinelli die Hand zu schütteln, muss man hinunter in die Fabrik, deren Dächer man vom Hügel oben glänzen sieht. Averaldo wartet schon im Wagen. 750 Mitarbeiter sind es, die gerade von der Mittagspause kommen. Die dauert auf Wunsch des Chefs eineinhalb Stunden. Immer. Einen Katzensprung von der Fabrik entfernt steht die Kantine, die an den Campus einer Elite-Uni erinnert. Aufgetischt wird heute Käse, Prosciutto, Salat und natürlich Pasta. Hühnchen gibt's auch.

Dann kommt der Wunderknabe. Er war über Nacht in Rom, war Gast in einer Sportsendung und parlierte über Fußball. Schließlich hat auch Cucinelli einen Verein. Als müsse er noch schnell ein paar Habseligkeiten sicherstellen, stürmt er ins Büro, mit einen Grinser im Gesicht, so breit wie eine Calzone. Er schnappt sich ein paar Blätter Papier und einen Bleistift. Das helfe ihm beim Denken, sagt der Mann, der einst das Studium des Ingenieurwesens hinschmiss und sich lieber mit Philosophie und Theologie in Bars und Kaffeehäusern beschäftigte, ehe er in den Modeladen seiner Frau einstieg.

Cucinelli sitzt an seinem Schreibtisch, ordert Kaffee und erzählt von der Strickwarentradition dieser Gegend, die ihn immer schon fasziniert habe. Nur war es eben Kaschmir, das ihm als Quintessenz seiner Idee vorschwebte, denn Kaschmir hänge mit dem Begriff Ewigkeit zusammen, und diese hat es ihm ebenso angetan wie die Philosophie. Anders, und von Cucinelli gesagt: "Einen Kaschmirpullover schmeißt man nicht weg! Auch nicht, wenn er sehr alt ist. Das hat durchaus etwas mit der Vorstellung von Ewigkeit zu tun." Hinzu kam bei Cucinelli der Gedanke, Farbe in das bis dahin konservativ angehauchte grauschwarze Reich des Kaschmirs zu bringen. Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, war ebenfalls dabei. Daran hegt der Mann keinen Zweifel. Und recht gibt ihm der Erfolg.

Letztes Abendmahl

In Brunello Cucinellis Büro - insgesamt regiert er in dreien - wäre Raum für ein Squash-Match. An seinem leeren, schneeweißen Schreibtisch könnte man das letzte Abendmahl geben. Nicht einmal ein Computer steht auf dem Tisch. Cucinelli verwendet keinen. Wozu auch? Dafür hat er seine Leute. In den Regalen stehen durchsichtige Dosen, gefüllt mit Kaschmir in allen Farben, auch solchen, die nicht einmal der Regenbogen draufhat. Bücher gibt's auch, nicht wenige.

Ob der Beziehung zwischen den Begriffen "human" und "Kapitalismus" nicht ein gewisser Widerspruch innewohnt? Cucinelli: "Mein Vater arbeitete in einer Betonfabrik. Ich habe gesehen, wie er erniedrigt wurde. Ich sah, wie mein Papa weinte. Er war 44 Jahre alt. Das ist das Alter eines Mannes, in dem er doch am allerstärksten ist. Dieses Bild bleibt für immer in meinem Gedächtnis. Damals wurde es zu meinem Lebenstraum, Arbeit menschlicher zu gestalten. Es gibt nichts Schlimmeres, als Menschen zu erniedrigen." Cucinelli spricht von einem alten, klassischen und einem neuen, modernen Kapitalismus.

Cucinelli, eine Art Robin Hood in der Welt der Luxusindustrie, der seinen Angestellten 20 Prozent mehr bezahlt, als er müsste, und auch mit anderen Zuckerln nicht geizt? Cucinelli überlegt, schreibt den Namen Jean-Jacques Rousseau auf das Blatt vor ihm und zitiert den Franzosen Daumen mal Pi: "Wenn ich an dich glaube, dann wirst du dich morgen auch verantwortlicher fühlen und somit kreativer sein. Vertrauen, Kreativität und Verantwortung sind die Pfeiler. Erinnern Sie sich an die Geschichte meines armen Vaters. Da gab es keinen Respekt", sagt der 60-jährige Fußballfan, der mit seiner Energie wirkt, als würde er gleich den Ball zu einem WM-Finale anstoßen.

Stattdessen schweigt er kurz und blickt aus dem Fenster auf sein Reich. 21.000 Quadratmeter umfassen allein die Fabrikshallen, das macht im Schnitt fast 30 Quadratmeter pro Mitarbeiter. So manche Flughafenhalle wirkt wie ein Provinzbahnhof im Vergleich zu dieser Anlage. Ein Roller für die Besichtigung wäre nicht übel. Es ist erstaunlich ruhig, und alles wirkt sehr geordnet - vielleicht wird Cucinelli auch deshalb oft "der Deutsche" genannt. Großzügigkeit also auch hier, egal ob in der Schneiderei, den Showrooms, der Administration, der Werbeabteilung, dem Accessoires-Department oder den zwei Designbüros. Hier arbeiten auch die beiden Töchter von Cucinelli, Carolina und Camilla. Fünf Mitarbeiter entwerfen die Männerkollektion, zehn die Mode für Damen, die circa 60 Prozent der Cucinelli-Kleidung ausmacht. 4000 Teile umfasst die Kollektion inklusive Accessoires. Die Designs reichen von sportlich bis elegant. Kein Entwurf geht raus, ohne dass ihn Cucinelli unter die Lupe nimmt. Auch in Sachen Design ist er der King.

Eine Milliarde Dollar

Just als er wieder den Bleistift ansetzt, um seine Argumente zu unterstreichen, läutet sein iPhone. Er wirft einen verächtlichen Blick darauf. Er denkt nicht daran, das Gespräch anzunehmen. "Wird schon wieder anrufen", sagen seine Augen. Zum Leuchten beginnen diese, als er von seinen Heiligen dort an der Wand spricht. Da hängen Bilder älterer Semester wie Marcus Aurelius, Seneca und jüngerer Kollegen wie Voltaire oder Wittgenstein. Aber auch Obama, Le Corbusier und Roberto Benigni treffen sich hier zwischen Bilderrahmen. Also gut, Philosophie: Cucinelli kam im vergangenen Jahr laut Bloomberg Billionaires Index auf ein Nettovermögen von mindestens einer Milliarde Dollar. Wie hält er es also mit Marcus Aurelius' Ausspruch "Vergiss nicht: Man benötigt nur wenig, um ein glückliches Leben zu führen"? Nach "wenig" sieht es in Cucinellis Königreich nicht aus. "Ich glaube, Aurelius wäre hier sehr glücklich, denn er würde sehen, dass hier etwas behütet wird. Mir geht es um Behüten, nicht um Besitzen. Wir sollten alle Hüter sein. Auch Marcus Aurelius war ein Behüter. Wenn man zum Besitzer wird, dann hat man Angst, etwas zu verlieren.

Besitztum ist vergänglich, das Behüten ist für die Ewigkeit", referiert der Zappelphilipp. Als das Gespräch von Aurelius zu Hadrian überschwappt, wird es schwierig, den Mann zu bremsen. Doch Cucinelli setzt Hadrian noch eins drauf. Er springt vom Sessel, nimmt einen am Arm und fingiert einen Spaziergang am Hof Ludwig XIV., vorbei an einem Koffer voller signierter Fußbälle. "Behüten und Verantwortung" lautet das Thema der Minivorlesung. Und wie sieht es mit Verkaufen statt Behüten aus? Wäre es nicht auch eine Form des modernen Kapitalismus, das Paradeunternehmen Cucinelli an einen Luxuskonzern wie LVHM oder Kering zu verkaufen, falls die in Solomeo an die Türe klopften? Schließlich ist deren Appetit kein kleiner.

Cucinelli, der von Versailles zurückgekehrt ist und wieder an der Tafel sitzt: "Hören Sie, diese Firma ist für mich wie ein kleiner Sohn, und ich wünsche mir, dass er ewig lebt. Nicht einmal wenn Sie mir schriftlich garantieren würden, dass diese Firma auch in 100 Jahren noch so existierte, würde ich unterschreiben. Ich wohne hier, ich führe ein ganz normales Leben und möchte diese Firma behüten, solange ich kann. Mein Vater fragte mich kürzlich: 'Möchtest du der Reichste sein, der auf dem Friedhof begraben liegt?' ,Nein', sagte ich. ,Ich will nur, dass diese Firma solide ist und bestehen bleibt.' Will das nicht jeder?"

Schließlich interessiert ihn dann die Frage, warum er das Buch Wie soll man leben? Anton Cechov liest Marc Aurel nicht kennt. Sofort wird eine Assistentin damit beauftragt, sich darum zu kümmern. Längst ist noch nicht alles gesagt, doch es wird Zeit für die Rückreise, der Fahrer wartet bereits auf dem Parkplatz. Es ist nicht Alveraldo, der hat wahrscheinlich Feierabend, spielt Fußball mit seinen Buben auf irgendeiner Wiese im Reich des humanen Kapitalismus. Persönlich kümmert sich der Kaschmir-König darum, dass auf der Fahrt nach Rom kein Durst gelitten wird, und organisiert eine Flasche Mineralwasser. Auf Genossenart gibt es sogar ein Abschiedsküsschen - und eine wattebauschgroße Flocke Kaschmir. "Ist gut gegen trockene Hände", sagt der König. (Michael Hausenblas, Rondo, DER STANDARD, 25.4.2014)