"90 bis 95 Prozent dieser Suchterkrankungen werden vom Arzt verursacht", sagt Michael Musalek, ärztlicher Leiter des Anton Proksch Instituts.

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Ein weitgehend unerforschter Bereich der Suchtkrankheiten ist die Abhängigkeit von Medikamenten, von der rund 130.000 Österreicher betroffen sein dürften. Ein starker Zusammenhang mit anderen psychischen Erkrankungen - zum Beispiel Burn-out oder Überlastungssyndrome - ist häufig. Das erklärte der Wiener Spezialist Michael Musalek bei den 23. Österreichischen Ärztetagen in Grado.

Illegalität sagt nichts aus

Musalek, ärztlicher Leiter des Anton Proksch Instituts (API), räumte in seinem Seminar mit vielen herkömmlichen Vorstellungen zu Abhängigkeit auf. So seien Suchtmittel keine bösen Substanzen an sich. "Suchtmittel sind großartig. Sie wirken hervorragend. Das macht sie erst gefährlich. 'Illegal' oder 'legal', das ist eine willkürliche Einteilung", sagt Musalek. Die Illegalität von Drogen verändere an ihnen nichts, führe aber zu spezifischen Problemen. So gebe es bei Drogen wie Heroin im Gegensatz zu potenziell abhängig machenden Arzneimitteln keine Preisregulierung, zum Beispiel über den Hauptverband der Sozialversicherungsträger, keine "Generika" (Nachahmepräparate) und keine Qualitätskontrolle.

Nikotin und Heroin sind beispielsweise in ihrem Suchtpotenzial ähnlich stark. Das ist vor allem durch den schnelle Wirksamkeitseintritts (inhalieren, injizieren) bedingt. Tranquilizer lägen irgendwo dazwischen. Ein Suchtmittel mit niedriger Potenz sei hingegen Alkohol. Hier benötige es viele Jahre hoher Dosen, um abhängig zu werden.

Alkohol schädlicher als Heroin

Auf der anderen Seite sei Alkohol deutlich gesundheitsschädlicher als Heroin (exklusive der akuten Überdosierung). "Mit Heroin können Sie praktisch keine Krankheit induzieren. Bei Alkohol wird alles geschädigt", sagte Musalek, der auch gegen die Stigmatisierung von Heroinabhängigen kämpft. Diese Betroffenen bräuchten für den Kauf der illegalen Drogen 3.000 bis 5.000 Euro netto. Das könnte man nur mit "Einbrechen", "Prostitution" oder "Handeln" auftreiben. "Es ist nicht so, dass die Dealer als 'böse Menschen' geboren werden."

Während es relativ viele Informationen über Alkoholismus und illegale Drogen gebe, mangle es an Daten zur Abhängigkeit von Arzneimitteln, betonte der Experte. Überhaupt: "Es wird immer über Medikamentenabhängigkeit gesprochen. Das ist aber ein reines Kunstprodukt." Amphetamine als Aufputschmittel und Tranquilizer als entspannend und Schlaf fördernd wirkende Medikamente hätten eigentlich nichts mit einander zu tun.

Fast immer vom Arzt verursacht

Auch andere Klassifizierungen sind offenbar falsch. Als "Humbug" bezeichnete Musalek die vor rund 20 Jahren entstandene Theorie, wonach zum Beispiel in der Schmerztherapie hoch wirksame Opiate bei solchen Patienten keine Abhängigkeit erzeugten. "Es gibt Anästhesisten, die sagen, wem sie Opiate als Schmerzmittel geben, der wird nicht abhängig, nur derjenige, der die Opiate am 'Karlsplatz' kauft." Das sei schlichtweg falsch.

Insgesamt stammt der überwiegende Teil der Suchtproblematik durch Arzneimittel gerade aus der Medizin. "90 bis 95 Prozent dieser Suchterkrankungen werden vom Arzt verursacht. Es gibt aber keine Untersuchungen zum problematischen Konsum der Medikamente", so der Wiener Fachmann.

Psychische Leiden im Hintergrund

Bei den Patienten mit Arzneimittelabhängigkeit spielen psychische Leiden im Hintergrund eine überragende Rolle. Dann erst dadurch kommt es ja zum Einsatz von Tranquilizern oder anderen Medikamenten. Aus dem Dauergebrauch mit Dosissteigerung etc. kann dann längerfristig die Sucht entstehen.

"Es gibt Alkoholiker, die sagen, sie hätten den Alkohol schon gern getrunken. Aber ich kenne niemand, der gesagt hat: 'So ein 'Valium hab' ich schon immer gern genommen.'", sagte der Fachmann. Das führt aber direkt zu den eigentlichen Ursachen der Abhängigkeit von medizinisch verordneten Arzneimitteln. So gibt es einen starken Zusammenhang mit Burn-out-Syndromen und Überlastungsreaktionen. "Das spielt eine große Rolle", meinte Musalek. Zusätzlich ist längst bekannt, dass mindestens ein Drittel aller Abhängigen psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angstzustände oder Psychosen aufweisen.

Letzteres führt gerade bei Personen, die von Arzneimitteln abhängig sind, zu einer besonderen Problematik. "Wenn ich ihnen das Mittel wegnehme, bleibt die Grunderkrankung übrig", sagte der Psychiater. Gerade deswegen hätten die Betroffenen die Arzneimittel ja genommen. Zu einem guten Teil würden die Medikamente ja die Grunderkrankung über lange Zeit hinweg zudecken.

Erst Entzug, dann Therapie

Somit kann eine Entzugsbehandlung nur der Startpunkt für eine umfassendere Therapie sein. Sonst kommt es fast zwangsläufig zum Wiederauftreten der Suchtproblematik. In der Behandlung geht es in der Folge um eine Therapie, welche möglichst das psychische Grundleiden beziehungsweise deren Hintergrund bewältigen lässt.

Die Behandlung von Arzneimittelabhängigkeit ist somit auch relativ komplex und dauert lang. Ohne stationären Aufenthalt - 80 Prozent der Therapien von Alkoholabhängigkeit können im Gegensatz dazu ambulant erfolgen - geht es nicht. Dieser dauert acht bis zehn Wochen. Darauf folgt die weiterführende Behandlung. (APA, derStandard.at, 2.6.2014)