Das Fußvolk der Fünf-Sterne-Bewegung rieb sich am Sonntag ungläubig die Augen. In Beppe Grillos Blog, dem wichtigsten Medium der Bewegung, wurde Premier Matteo Renzi nicht wie gewohnt als "Trottel aus der Provinz" oder als "infamer Lügner" gebrandmarkt. Was dort zu lesen stand, kam vielmehr einer radikalen Kehrtwende gleich. Beppe Grillo und Roberto Casaleggio, die beiden Gründer des Movimento 5 Stelle, boten dem vielgeschmähten Regierungschef plötzlich einen Dialog an. Man könne sich zusammensetzen und gemeinsam über das neue Wahlgesetz diskutieren - so die überraschende Botschaft.

In 1600 Postings gerieten sich Grillos Anhänger umgehend in die Haare. Verrat an den eigenen Prinzipien oder längst fällige Abkehr vom Kurs totaler Konfrontation? Drei Wochen nach ihrem Misserfolg bei der EU-Wahl rückte Grillo deutlich vom Vorwurf des Wahlschwindels ab. Renzi sei durch das Ergebnis legitimiert worden. Die Bewegung sei an einem Gespräch über das neue Wahlrecht interessiert.

Der Premier reagierte vorsichtig auf das überraschende Angebot. "Im Interesse des Landes setzten wir uns mit allen Parteien an einen Tisch. Aber wir wollen keine faulen Tricks." Als gewiefter Kommunikationsstratege knüpfte Renzi das Angebot an eine Bedingung: "Diesmal werden wir auf dem Streaming bestehen" - dem Prinzip der Fünf-Sterne-Bewegung, alle Begegnungen live im Internet zu übertragen. Eine Einigung erscheint schwierig, den Renzi wünscht ein Mehrheits-, die Bewegung ein Verhältniswahlrecht.

Grillo wird sich freilich nicht selbst mit dem verhassten Renzi an einen Tisch setzen - das überlässt er seinen Fraktionsvorsitzenden. Die neue Strategie hatte sich bereits vor wenigen Tagen angekündigt, als sich Parlamentarier der Bewegung mit Justizminister Orlando trafen, um über ein Antikorruptionsgesetz zu sprechen.

Die Wende eröffnet neue Perspektiven in Italiens Politik. Denn Matteo Renzi wäre bei seinen Reformen nicht mehr auf die Zustimmung Silvio Berlusconis angewiesen, und das Problem seiner Wackelmehrheit im Senat wäre gelöst. Nach ihrem populistischen Wahlkampf zeigt sich nun auch die Lega Nord gesprächsbereit und will Renzis Reform des Senats unterstützen.

Unter Grillos Parlamentariern überwiegt Zustimmung zum neuen Kurs. "Ich bin dafür. Aber warum wurde eine so wichtige Entscheidung nicht der Basis zur Abstimmung vorgelegt?", fragt die Abgeordnete Mara Mucci. Der Senator Luis Alberto Orellana schüttelt ungläubig den Kopf: "Mich hat man unter Beschimpfungen aus der Bewegung ausgeschlossen, weil ich für den Dialog plädiert habe. Und der wird jetzt plötzlich von Grillo verordnet." (Gerhard Mumelter aus Rom, derStandard.at, 16.6.2014)