Charlotte Perriand 1928. Die Hand links gehört Le Corbusier. Gleich einem Heiligenschein hält er einen Teller über seine Mitarbeiterin.

Piere Jeannere / AChP; Verlag

Im Verlag Scheidegger & Spiess ist eine großartige neuen Monografie über Charlotte Perriand erschienen.

Breuer, Rams, Sottsass, Aalto, Hoffmann. Es ist nicht schwer, ein paar Namen von männlichen Gestalter-Kapazundern des 20. Jahrhunderts aus dem Ärmel zu schütteln. Aber wie sieht es mit den Kolleginnen aus? Schaut man sich die weite Welt des Designs an, tut sich so ziemlich das Gegenteil einer Frauendomäne auf. Spärlich sickern die Namen der weiblichen Gestalter durch die Geschichte der Objektgestaltung. Einer jedoch wird, obwohl die Frau 1999 das Zeitliche segnete, vielleicht nicht lauter, ist aber immer deutlicher zu hören: Charlotte Perriand.

Mehr und mehr Ausstellungen und Publikationen würdigen die Französin, die für viele lange Zeit nur als Schattenfigur im Reich des großen Le Corbusier wahrgenommen wurde. Der Platz an der Sonne, der gehörte Le Corbusier.

Als Perriand 1927 im Atelier des Meisters zu arbeiten beginnt, begrüßt dieser die 24-Jährige angeblich mit den Worten: "Hier werden keine Kissen gestrickt." Perriand betreut fortan gemeinsam mit Le Corbusiers Cousin Pierre Jeanneret unzählige Projekte im Möbel- und Innenarchitekturbereich, dazu zählt auch die "Corbusier-Liege LC 4". "LC 2" heißt eine andere Sitz-Ikone aus dem Atelier. Doch LC steht für Le Corbusier. 1937 ist Schluss. Perriand scheidet aus dem Büro aus. Gut zehn Jahre später wird es zu einer erneuten Zusammenarbeit kommen. Immer wieder kooperiert Perriand auch mit Jean Prouvé, und auch hier pickt nicht nur sie die Rosinen aus dem Gestalterkuchen. So wurden zum Beispiel einige Komponenten von Regalsystemen, die Perriand entwarf, in Prouvés Werkstatt gefertigt. Auch sie galten bei so manchem Zeitgenossen als seine Schöpfung.

Stock und Stein

Apropos Schöpfung: Die Formensprache der Pariserin Perriand ist beeinflusst von einer Faszination in Sachen Schlichtheit, moderner Maschinenästhetik und Funktion. Auch Ruhe strahlen die Entwürfe aus. Verschwurbelte Detailverliebtheit ist das ihre nicht. Dabei ließ sich Perriand von gesellschaftlichen Ideen ebenso inspirieren wie von Dingen, die sie in der Natur fand: Kieselsteine, von Flüssen geformte Holzstrünke, auch Eisenstücke und Knochen nahm sie mit ins Atelier, um sie für ihr Archiv der Dinge zu fotografieren. Dies tat sie nicht nur zu Dokumentationszwecken. Auch die Fotografie wurde ein Medium, mit welchem sich Perriand über das Büro hinaus darstellte. Mit ihren Großformaten wollte sie unter dem Titel "La Grand Misère de Paris" auf die sozialen Missstände in der Großstadt hinweisen. Um Menschenwürde ging es ihr auch bei ihren Möbel- und Interieurentwürfen. Dass einige ihrer Stücke längst zu Statussymbolen in Vorstandsetagen und Bonzenvillen wurden, war mit Sicherheit nicht der Plan von Charlotte Perriand.

Die Musen küssten sie aber nicht nur in Form von kleinen Steinen, die sie von Ausflügen mitbrachte. Auch ganz großes Gestein, nämlich die Alpen, waren ein Gebiet, das Perriand von Kindheit an faszinierte. Erst vor zwei Jahren realisierte das italienische Designlabel Cassina, das auch andere Entwürfe Perriands im Programm hat, ein von ihr 1938 entworfenes, fassförmiges Alpenbiwak namens "Refuge tonneau" mit vier mal vier Metern Grundfläche.

Berg und Meer

Mehr Platz bietet ein Entwurf für ein Strandhaus, die "Maison au bord de l'eau", die die Französin 1934 aufs Blatt brachte und von Louis Vuitton für die Messe Design Miami 2013 gebaut wurde - ein Entwurf, so zeitlos wie ein Sandstrand. Auch Reisen waren der Designerin und Architektin eine Quelle der Eingebungen. Ihre Neugierde an der Moderne ließ sie in den 1930er-Jahren in die Sowjetunion reisen, wo sie mit Zeitgenossen wie El Lissitzky und László Moholy-Nagy zusammentraf. Auch von weiter östlich, nämlich aus Japan, strömten formale Einflüsse in die Arbeit der Gestalterin, war sie doch von 1940 an längere Zeit Designberaterin für das japanische Handelsministerium, ehe sie nach dem Krieg wieder in Europa an einer Menge Projekte Hand anlegte - so entwarf sie zum Beispiel Büros für Air France in Paris, London oder Tokio. Erneut ging sie auch wieder Kooperationen mit anderen Gestaltern ein, darunter Paul Nelson und abermals Jean Prouvé.

Erst nach ihrem Tod klingt ihr Namen allmählich so deutlich, dass man ihn auch gebührend wahrnimmt. 2005 widmete ihr das Centre Pompidou eine Ausstellung, welcher andere folgten, zum Beispiel im Zürcher Museum für Gestaltung im Jahre 2010.

Neben anderen Publikationen ist nun ein prächtiges Buch im Verlag Scheidegger & Spiess erschienen. Jacques Barsac: Charlotte Perriand, Complete Works, Volume 1, 1903-1940 lautet sein Titel. 120 Euro muss man für die 480 Seiten mit englischen Texten und wunderbaren Fotos hinblättern. Das ist nicht gerade ein Schnäppchen, aber das schwergewichtige Druckwerk lässt einen auf großartige Weise in die Welt der Charlotte Perriand eintauchen, um mit ihr ein paar Steine im nächsten Bachbett zu suchen. (Michael Hausenblas, Rondo, DER STANDARD, 4.7.2014)