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Rund 340.000 Österreicher sind alkoholkrank, weitere 760.000 trinken in einem "problematischen Ausmaß".

Foto: dpa-Zentralbild/Jens Büttner

Alkohol hat Vorteile. Vielen schmeckt er, und auf ihn ist Verlass - er wirkt. Nicht grundlos ist er also Volksdroge Nummer eins: Laut einer WHO-Studie trinken die Österreicherinnen und Österreicher pro Jahr im Schnitt über zehn Liter reinen Alkohol, wobei Alkoholkranke und Menschen mit problematischem Konsum rund 70 Prozent des Gesamtkonsums ausmachen dürften.

Mildert Spannungen

Als die legale angst- und spannungslösende Substanz schlechthin wirkt Alkohol schon in geringer Dosierung euphorisierend. Er mildert Nervosität und enthemmt, fördert das Einschlafen, lockert auf und wirkt erleichternd. Außerdem ist er verfügbar und billig: Vom "gesunden Achterl" bis hin zum gehörigen Ausrutscher samt Blackout ist alles zu haben.

"Jeder hat mal Stress oder fühlt sich ohnmächtig. Da einmal etwas zu trinken, würde ich nicht gleich pathologisieren", erklärt Gabriele Fischer, Leiterin der Ambulanz für Suchtforschung und Suchttherapie des Wiener AKH. "Ein Alarmsignal ist es aber, öfter zu trinken, weil man sich nervös, angespannt oder ängstlich fühlt und der Alkohol erleichtert. Dann behandle ich mich selbst mit der Substanz."

In sehr vielen Fällen überdeckt die Alkoholabhängigkeit eine andere psychische Erkrankung, die behandelt werden muss. Auch Michael Musalek, ärztlicher Leiter des Suchttherapiezentrums Anton-Proksch-Institut (API), kennt diesen Weg in die Sucht gut: "Es ist fast immer so: Eine Person befindet sich in der Gruppe der problematischen Konsumenten, kommt damit aber über Jahre hinweg gut klar. Dann passiert irgendwann ein Schicksalsschlag, und plötzlich lässt sich das Trinken nicht mehr steuern, weil Alkohol als Medikament dient."

Häufige Ursachen sind Jobverlust, Trennung oder auch Schuldenprobleme. Aus Jux und Tollerei würde jedenfalls niemand in eine Suchterkrankung schlittern.

Problematisches Trinken

Doch: Problematischer Konsum - was ist das überhaupt? Rund 340.000 Österreichern ist Alkohol zum Verhängnis geworden, sie gelten als alkoholkrank. Weitere 760.000 Menschen sollen in einem "problematischen Ausmaß" trinken.

Die Datenlage dazu ist aber dürftig, wie Gabriele Fischer scharf kritisiert: „Als eines von zwei EU-Ländern hat Österreich keinen nationalen Suchtplan. Alkoholsucht ist die fünfthäufigste und fünftteuerste psychiatrische Erkrankung. Weil es nur Schätzungen und Meinungsumfragen zum Thema gibt, kommt es sowohl in der Prävention als auch in der Therapie zur völligen Fehlinvestition öffentlicher Gelder.“

Ab wann das Trinkverhalten krankhaft wird, ist schwer zu sagen. Konkret sind nur die als unbedenklich eingestuften Konsummengen: Frauen sollten nicht mehr als 16 Gramm, Männer nicht mehr als 24 Gramm Alkohol pro Tag zu sich nehmen. Das heißt: Ein Achtelliter Wein bei Frauen beziehungsweise ein halber Liter Bier bei Männern stellen noch kein Gesundheitsproblem dar - wenngleich diese Mengenangabe wenig aussagt über das Risiko, suchtkrank zu werden.

Ein sogenanntes alkoholpermissives Milieu spielt da etwa eine weitaus größere Rolle: In einem Freundeskreis, in dem häufig getrunken wird, fällt es einem selbst schwer auf, dass man zu viel trinkt.

Gabriele Fischer sieht zudem in der genetischen Prädisposition ein Warnsignal dafür, leichter an einer Sucht zu erkranken: "40 bis 60 Prozent der Erkrankten sind genetisch vorbelastet. Das heißt nicht, dass man nur überlegen sollte, ob in der Familie schon jemand alkoholkrank war, eine Neigung zu Suchtverhalten kann sich auch etwa durch starkes Rauchen äußern." Alkoholkrank kann aber jede Person werden, die zu viel trinkt - schützende Gene gibt es nicht.

Kein Tag ohne Alkohol

Die Alarmglocken sollten laut Musalek jedenfalls schrillen, wenn es kaum alkoholfreie Tage mehr gibt. Fällt es schwer, tagelang keinen Alkohol zu trinken, müsse man sich fragen: Ist es, weil ich mich in einer Gesellschaft bewege, in der es auffällt, Antialkoholisches zu bestellen? Es könne aber auch sein, dass man bei einer Sitzung, bei der man reden muss, das Gefühl habe, ohne Alkohol zu versagen. Das seien unterschiedliche Gewichtungen.

So mache es einen Unterschied, ob ein Paar etwa regelmäßig beim Abendessen gemeinsam genüsslich eine Flasche Wein leert und angeregt diskutiert oder ob das Gespräch inhaltslos verläuft und es vielmehr um die Flasche an sich geht, erläutert Gabriele Fischer. Ob konstantes Trinken mit Toleranzentwicklung oder starke Wochenendräusche mit Abstinenz unter der Arbeitswoche: Problematisch kann beides gleichermaßen sein. Nicht jeder Alkoholkranke trinkt zwingend täglich.

Das gegenwärtige amerikanische Klassifikationssystem DSM-5 führt elf Kriterien an, die bereits auf ein frühes Abhängigkeitssyndrom verweisen können. Zwei bis drei zutreffende Kriterien von elf deuten auf eine milde Krankheitsausprägung hin, vier bis fünf auf eine mittlere und sechs oder mehr auf eine schwere Suchterkrankung: Diese Kategorisierung ist neuartig, weil Sucht so schon in Frühstadien diagnostiziert und damit behandelt werden kann.

Zu den Kriterien zählt etwa, dass Konsumenten ihre Aktivitäten vernachlässigen und ihren Tagesablauf auf den Konsum abstimmen. Genauso kann ein anhaltender Konsum trotz eindeutiger schädlicher Folgen (soziale Konflikte aufgrund des Trinkens, Jobverlust, Magengeschwür usw.) ein Zeichen für Abhängigkeit sein. Zu den Kriterien gehört auch das "Craving", also der Zwang zu trinken.

Gefährliche Toleranzentwicklung

"Das hat nichts mit Lust zu tun. Es fühlt sich an, als wäre man akut verliebt, aber der Partner kommt einem abhanden. Es kommt zu einem Vernichtungsgefühl", erklärt Musalek. Und auch eine Toleranzentwicklung deutet stark auf eine Sucht hin. Einer der extremeren Fälle: "Wir haben einmal eine Patientin aufgenommen mit 2,6 Promille Blutalkoholgehalt, was bei einem anderen Menschen schon mit einem Spitalsaufenthalt verbunden wäre. Sie hatte aber nicht mehr als einen leichten Spitz", erinnert sich Musalek.

Beim Gefühl, zu oft oder zu viel Alkohol zu trinken, sind Ärzte oder Suchtberatungsstellen in den Bundesländern eine wichtige Orientierungshilfe. Auch in einer Psychotherapie lässt sich erörtern, welche Faktoren für das eigene Trinkverhalten bestimmend sind - selbst wenn Therapeuten keine medizinische Hilfestellung leisten können. Verschleierungs- oder Verdrängungstendenzen abzubauen, könne helfen, das Problem als solches zu erkennen, so der Experte.

Fallen Menschen etwa durch eine "Fahne" in der Arbeit auf, sollte das Gespräch von einer Vertrauensperson gesucht werden - unter vier Augen und nicht anklagend, denn: "Sucht ist nach wie vor ein hochtabuisiertes Thema. Darüber zu sprechen ist wie offen über die eigene Sexualität zu sprechen. Das geht nur mit einer Vertrauensperson", sagt Musalek. Sich zu öffnen falle schwer, vor allem bei Befürchtungen, verlacht zu werden, mit Konsequenzen rechnen zu müssen oder damit, dass der Gesprächspartner etwas weitererzählt.

Trinkverhalten hinterfragen

Sein eigenes Trinkverhalten im Auge zu behalten zahlt sich jedenfalls aus. Es gibt kaum ein Organsystem, das nicht durch hohen Alkoholkonsum geschädigt wird: Magen-Darm-Geschwüre oder eine Fettleber können organische Folgen sein, genauso wie die tödliche Leberzirrhose, die Schrumpfung der Kleinhirnrinde oder des Großhirns. Das Risiko für viele Krebserkrankungen steigt, zu den psychiatrischen Komplikationen zählt etwa das Delirium tremens ("weiße Mäuse sehen"). Die Lebenserwartung reduziert sich stark.

Experten raten daher, auf alkoholfreie Tage zu achten, öfter auf schmackhafte nichtalkoholische Getränke umzusteigen, Alkohol beim Essen nur als Beigetränk statt als Hauptgetränk zu konsumieren, Verdünntes wie "Spritzer" härteren Drinks vorzuziehen, nicht zu Hause und vor allem nicht wegen der Wirkung oder bei schlechter Gemütsverfassung zu trinken. Sich beraten zu lassen sei bei Unsicherheit klug, sagt Musalek: "Man muss sich ja nicht gleich in Behandlung begeben. Es hilft, zu hinterfragen: 'Ist das noch gescheit, was ich da mache?'" (Sandra Nigischer, derStandard.at, 8.8.2014)