STANDARD: Die finanziellen Ressourcen werden knapper, die Menschen immer älter. Die Sorge, dass die medizinische Versorgung eines Tages nicht mehr gewährleistet werden kann, ist nicht von der Hand zu weisen. Was macht die Politik?
Alois Stöger: Wir haben in Österreich sichergestellt, dass der Zugang zu medizinischen Leistungen für alle Menschen gewährleistet bleibt. Dafür gibt es die soziale Krankenversicherung, ihrem Ursprung nach eine Bürgerinitiative, die sich selbst verwaltet. Dieses bestehende System ist gesichert, aber wir müssen es weiterentwickeln, auch in der Krise. Dafür gibt es die Gesundheitsreform, in der es um den "best point of service" für Patienten geht. Bezüglich des Zugangs zu Versorgung sind wir in Österreich international Spitzenreiter.
STANDARD: Stimmt das aus Patientensicht?
Andrea Fried: Bei Umfragen sind Patienten und Patientinnen in Österreich eigentlich sehr zufrieden mit dem Gesundheitssystem. Was den Menschen offenbar besonders wichtig ist, ist der niederschwellige Zugang zu den Leistungen. Wir in der Selbsthilfe haben es allerdings vor allem mit chronisch Kranken zu tun, also den "frequent Usern" des Systems, und deshalb kann ich sagen: Es gibt viele Baustellen, Bereiche, in denen es Mängel und Lücken gibt.
STANDARD: Zum Beispiel?
Fried: Überfüllte Spitalsambulanzen. Dass dort viele Bagatellfälle behandelt werden, ist ein großer Schwachpunkt für das System. Zweites Problem: Wartezeiten für Termine bei Fachärzten aus bestimmten Fachbereichen. Wenn Ärzte mit Kassenvertrag überlaufen sind, wird auf Wahlärzte ausgewichen. Dort müssen Patienten aber Honorare bezahlen, was gerade für Menschen mit chronischen Krankheiten zu einer großen finanziellen Belastung werden kann. 100 Euro für einen Arztbesuch im Durchschnitt, das ist viel Geld, vor allem dann, wenn die Krankenkasse vielleicht nur 7,25 Euro vom Honorar refundiert.
Stöger: Deshalb war mir immer wichtig, dass die Finanzierung der Gebietskrankenkassen sichergestellt ist. Das sind die Grundlagen, auf denen ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem aufbaut. Zusätzlich läuft aber auch die Gesundheitsreform. Wir wissen, dass wir in der Zukunft mehr Menschen mit chronischen Erkrankungen versorgen müssen und richten die bestehenden Strukturen darauf aus.
STANDARD: Was heißt das konkret?
Stöger: Es geht um einen anderen Blick auf die Dinge. Bisher hatten wir ein an den Institutionen orientiertes Gesundheitssystem. Es wurde immer aus Sicht der verschiedenen Institutionen argumentiert. Darum geht es aber längst nicht mehr. Der Wandel besteht darin, dass die Systeme patientenorientiert werden. Gerade bei chronischen Erkrankungen.
Fried: Gerade beim Management von chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder COPD sind wir in Österreich sehr schlecht. Es gab da zwar Initiativen vonseiten der Krankenkassen, die Versorgung durch Disease Managementprogramme in den Griff zu bekommen. Die Bereitschaft, sich daran freiwillig zu beteiligen, ist jedoch weder bei Ärzten noch bei Patienten sehr groß.
STANDARD: Dabei argumentieren Ärzte doch meistens, zum Wohle der Patienten zu agieren. Werden Patienten instrumentalisiert?
Fried: Wir müssen oft schmerzhaft zur Kenntnis nehmen, dass die Macht im Gesundheitswesen nach wie vor bei der Ärzteschaft liegt. Das hat auch der letzte Health Consumer Index für Österreich festgestellt. Oft decken sich die Interessen von Ärzten und Patienten. Aber nicht immer. Wenn Patienteninteressen vorgeschoben werden, um Standespolitik zu machen, dann finden wir das ärgerlich.
STANDARD: Das könnte in den Verhandlungen Ende Juni zur Primärversorgung vielleicht ein Thema gewesen sein.
Stöger: Die Verhandlungen um die Primärversorgung haben gezeigt: Wenn ich im System einen Wechsel in der Ausrichtung mache, also weg von Institutionen hin zum Patienten, dann erleidet eine Gruppe in diesem Prozess einen Machtverlust. Das ist so. Manche wollen das einfach nicht akzeptieren, doch es gibt auch andere, die den Nutzen eindeutig sehen. Gleichzeitigkeit in Veränderungsprozessen gibt es nicht. Das trifft auch auf die Ärzte zu.
STANDARD: Was wäre ein optimiertes Procedere?
Stöger: Keine hierarchische Beziehung zwischen Arzt und Patient, sondern die Frage, wo und von wem eine Leistung optimal angeboten werden kann. Die erste Anlaufstelle ist der Hausarzt, besonders bei chronischen Erkrankungen. Da sollen ihn andere Berufsgruppen unterstützen. Arzt, Pflege, Physiotherapie, Sozialarbeit sollen in einem Netzwerk arbeiten. In Netzwerken, die qualifiziert sind. Es kann nicht sein, dass ein Diabetiker in Österreich Glück haben muss, um gut versorgt zu sein.
Fried: Das ist aber auch eine Frage, wie der Faktor "Zeit" honoriert wird. Wir wissen von einer Allgemeinmedizinerin, dass an einem Vormittag zwischen 120 und 150 Patienten in ihrer Ordination sind. Würde sie alle persönlich sehen, hätte sie pro Patient genau 1,6 Minuten Zeit. Das ist zwar ein Extremfall, aber im Durchschnitt gewähren Ärzte ihren Patienten zwischen vier und fünf Minuten. Da kann man als Patient also weder nachdenken, noch nachfragen, eigentlich auch gar nicht wirklich reagieren. Besonders dramatisch ist das, wenn es sich um eine schwere oder seltene Erkrankung handelt.
STANDARD: Was wäre das Ziel?
Fried: Zumindest eine Zwölf-Minuten-Medizin. Das hat sich in internationalen Studien zur Primärversorgung als eine realistische Zeitspanne erwiesen. Wobei: Diese zwölf Minuten muss nicht der Arzt machen, sondern können auch andere Berufsgruppen umsetzen. Das erfordert einen Kulturwandel in der Medizin, es geht in Richtung Teamwork. Und was das Gesundheitssystem betrifft, das Sie, Herr Minister, zu Beginn angesprochen haben: Die Krankenversicherungen sind nicht immer die Vertreter der Patienten. Wenn eine Patientin zum Beispiel vor der Chefärztin einer Krankenkasse steht und ein Medikament nicht bewilligt bekommt, dann werden die Kassen eher als Gegner denn als Vertreter empfunden. Wir von der Selbsthilfe sind sehr häufig mit Anliegen konfrontiert, die Leistungen der Sozialversicherung betreffen. Die sind von Versicherung zu Versicherung auch sehr unterschiedlich.
Stöger: Ich bin auch ein Kritiker der Chefärzte und erachte das Modell als zu bürokratisch und überholt. Es geht aus Sicht der Gesundheitsversorgung darum, individuelle und kollektive Interessen vereinbaren zu können. Krankheit aus Sicht eines betroffenen Patienten und seiner Angehörigen muss geheilt werden, auch wenn eine Therapie eine Million Euro kosten würde. Es ist aber Aufgabe des Gesundheitssystems, eine solche Therapie allen Menschen anbieten zu können. Abwägung von Kosten und Nutzen ist vor allem bei chronischen Erkrankungen ein wichtiger Prozess.
DER STANDARD: Ginge es nicht auch darum, Patientenorganisationen als Stakeholder im System zu integrieren, ihre Stimme in Entscheidungen einzubinden?
Fried: In Deutschland gibt es eine Verordnung, in der klar festgelegt ist, wer Patienteninteressen vertreten kann. Das macht Sinn, denn sonst läuft man Gefahr, dass sich die Entscheidungsträger bei Bedarf eine Patientengruppierung, die ihnen "genehm" ist, rauspickt. Um solche Fragen zu klären, müssen wir von der Selbsthilfe noch stärker in Dialog treten. Es ist aber ein Prozess, der läuft. Es wäre schön, wenn die Politik die Selbsthilfe - neben anderen wichtigen Akteuren wie etwa Patientenanwälte - dazu legitimieren würde und ihre Rolle gesetzlich verankert.
Stöger: Aus meiner Sicht sollte Selbsthilfe gestärkt werden, weil sie Orientierung für Patienten bedeutet. Sie hat aber einen strukturellen Nachteil. Sie hängt nämlich auch vom jeweiligen Krankheitsbild ab, das eine Selbsthilfegruppe betreut. Engagement in Selbsthilfegruppen hängt ja ebenfalls von der Energie ab, die jemand dafür aufbringen kann. Aber klar, gerade bei chronischen Erkrankungen ist Selbsthilfe extrem wichtig. Da kann sie Erfahrungen und Optimierungspotenzial einbringen. Also: Selbsthilfe soll finanziert werden, da habe ich Vorschläge eingebracht, und klar kann man über die Höhe der Finanzierung streiten, es ist wichtig, dass ihr Raum gegeben wird.
STANDARD: Wie unabhängig sind Selbsthilfegruppen eigentlich?
Fried: Sponsoring von Selbsthilfe durch die pharmazeutische und Medizinprodukteindustrie ist ein sehr sensibles Thema. Es gab in den letzten zehn Jahren sehr positive Entwicklungen, was die Ethikstandards betrifft. Das Schlüsselwort zu allem heißt Transparenz. Die Firmen müssen Zuwendungen an Selbsthilfegruppen auf ihren Websites veröffentlichen, Leistungen und Gegenleistungen müssen vertraglich vereinbart sein, und es darf keine inhaltliche Beeinflussung geben. Da es derzeit noch zu geringe öffentliche Zuwendungen an die Gruppen gibt, etwa zur Erstellung einer Website, sind viele Selbsthilfegruppen auf die Gelder aus der Pharmaindustrie angewiesen. Ein Mindestmaß an Kommunikation braucht jede Gruppe.
STANDARD: Das Wort Zwei-Klassen-Medizin ist in der Gesundheitspolitik verpönt. Doch am Ende entscheidet schon heute der Bildungsstand eines Patienten über die Qualität seiner Behandlung, oder?
Stöger: Gesundheitliche Chancengerechtigkeit ist ein wichtiger Punkt in den Gesundheitszielen. Man braucht differenzierte Zugänge, um auch Menschen mit niedrigem Bildungsniveau zu erreichen. Das ist eine Kulturfrage. Am Land sind die Dinge anders als in der Stadt. Darauf müssen wir achten. Die Frage für uns Politiker ist, wie wir es schaffen, die Menschen zu erreichen.
Fried: Gesundheitskompetenz ist als Schlagwort derzeit sehr präsent. Da haben wir in Österreich auch massiven Nachholbedarf. Sich diese Gesundheitskompetenz anzueignen, ist einer der Gründe, warum Menschen Selbsthilfegruppen aufsuchen. Wenn Menschen von Diagnosen erfahren, sind sie oft erst einmal schockiert. Ein Gespräch mit Menschen, die mit dieser Diagnose leben, kann sehr hilfreich sein. Betroffene wissen das sehr genau. Natürlich dürfen Mitglieder von Selbsthilfegruppen nicht sagen: "Geh zu diesem Arzt", oder "Nimm dieses Medikament", aber sie können schon sagen, wo und bei wem sie gute Erfahrungen gemacht haben. Selbsthilfe fördert die Gesundheitskompetenz. Das ist in Studien belegt.
STANDARD: Wer krank ist, muss warten lernen: So lautet eine häufige Klage von Patienten. Wo ist Warten akzeptabel, wo nicht?
Fried: Ein System ohne Wartezeiten gibt es nicht. Deshalb ist das Management von Krankheiten auch so wichtig. Das soll die Aufgabe der neuen Primärversorgung sein. Hausärzte sollen die richtige Versorgungsstufe für Patienten definieren. Da sind Ordinationszeiten von acht bis zwölf Uhr weniger toll, weil das in der Arbeitszeit der meisten Menschen liegt. Wir müssen die Wartezeiten bei Fachärzten verringern, auf eine Spirometrie sollen COPD-Patienten nicht wochenlang warten müssen. Auch in der Strahlentherapie gibt es massive Engpässe.
Stöger: Zeit und Krankheit sind zwei Größen, die in unserer durchgetakteten Gesellschaft nur schwer vereinbar sind. Gesund zu werden ist ein Prozess, braucht Zeit. Das ist ein Widerspruch, den das System ausgleichen muss. Bei Schlaganfall muss es schnell gehen, um Folgeschäden zu vermeiden, bei geplanten Eingriffen wie Hüft- oder Knieoperationen müssen Wartezeiten transparent gemacht werden.
STANDARD: Sind Wartezeiten schon ein Vorzeichen auf den demografischen Wandel?
Fried: Nicht unbedingt. Wir haben zum Beispiel bei den Augenoperationen gesehen, wie sich Wartezeiten durch ein verbessertes Management radikal verkürzen lassen ...
Stöger: Wir haben diese Problematik auch öffentlich gemacht und transparent diskutiert, das hat zu einer Verbesserung der Situation geführt.
Fried: Transparenz bringt Dynamik in Systeme.
Stöger: Gesundwerden ist aber auch eine Beziehungsfrage. Es braucht fachliche Kompetenz, aber auch Einfühlung. Ich war vorgestern in einer Reha-Einrichtung für Menschen nach Schädel-Hirn-Trauma. Dort ist mir wieder einmal klargeworden, dass man Menschen nur im Team gut betreuen kann. Ärzte, Pflege, Physio- und Psychotherapie arbeiten gemeinsam, aber auch die Putzfrau spielt eine wichtige Rolle, weil sie für eine gute Stimmung sorgt.
STANDARD: Und wie stehen Sie zur älter werdenden Gesellschaft?
Stöger: Wenn Menschen länger gesund sind, muss sich das nicht nachteilig auf die Kosten auswirken. Wir haben Krankheitsprävention ins Regierungsprogramm aufgenommen und in Maßnahmen wie der HPV-Impfung oder dem Mammografie-Screening umgesetzt. Es stimmt zwar, dass durch die Überalterung neue Krankheitsbilder entstehen, das heißt aber nicht, dass zwangsläufig alles teurer werden muss, wenn wir Maßnahmen treffen, um gegenzusteuern. (Karin Pollack, DER STANDARD, CURE, 19.8.2014)