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In der Mitte sitzt die Kraft: Wer Energie aus der Nahrung nicht mehr richtig aufnehmen kann, ist stark beeinträchtigt.

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Ständiger Durchfall, krampfartige Bauchschmerzen, Blut im Stuhl - und es dauert mehr als ein Jahr, bis der Arzt die Ursache gefunden hat. So geht es jedem dritten Patienten mit den chronisch entzündlichen Darmkrankheiten (CED) Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, wie eine Umfrage des Marktforschungsinstitutes Medupha bei 103 Betroffenen ergab.

Für Gastroenterologen ist das nichts Neues: Die große Schweizer CED-Kohortenstudie mit mehr als 3.000 Patienten hat das schon vor einem Jahr herausgefunden. "Es ist nicht nur schlimm, dass die Patienten so lange leiden müssen", sagt Herbert Tilg, Leiter der Inneren Medizin I der Uniklinik in Innsbruck. "Das Fatale ist zudem, dass wir die Krankheiten viel besser behandeln können, wenn sie früher festgestellt werden."

Zwar fühlen sich die meisten Patienten gut informiert und medizinisch betreut, aber die Therapie lässt zu wünschen übrig: Nur jeder Zweite gab an, er habe während der vergangenen Wochen mehr "bessere" als "schlechtere" Tage gehabt – und das obwohl Fachärzte die Patienten für die Umfrage vorschlugen und die Patienten eigentlich bestens versorgt sein müssten.

Neue Medikamente

In den vergangenen Jahren wurden neue Medikamente entwickelt, von denen einige Patienten auch profitieren. Doch nur langsam beginnen Forscher zu verstehen, warum CED entstehen. "Wir wissen deshalb auch nicht, ob wir mit unseren Therapien die Krankheit an der Wurzel packen", sagt Gerhard Rogler, Chef-Gastroenterologe an der Uniklinik in Zürich.

Eine Rolle spielt die Vererbung: Menschen mit bestimmten Genveränderungen haben ein erhöhtes Risiko zu erkranken. "Seit den großen Genomstudien der vergangenen Jahre wissen wir, dass sich diese am häufigsten in den Genbereichen finden, wo Informationen über das angeborene Immunsystem festgelegt sind", sagt Tilg. "Das war der Beweis, dass Defekte in dem System CED begünstigen."

Das angeborene Abwehrsystem besteht unter anderem aus Abwehrzellen und Botenstoffen und mechanischen Barrieren, also etwa der Schleimhaut im Magen-Darm-Trakt, die Keime am Eindringen hindern sollen. "Das System ist genial", sagt Tilg. "Es toleriert problemlos unsere eigene Keimflora, die aus Milliarden von Bakterien besteht. Aber wenn zehn schädliche Salmonellenkeime kommen, erkennt es die sofort und macht sie unschädlich." Die Genveränderungen bei CED führen dazu, dass Botenstoffe, Abwehrzellen und die Barrieren nicht mehr so gut funktionieren und Keime leichter eindringen können. Das Immunsystem reagiert mit einer überschießenden Abwehr, und der Darm entzündet sich.

Umweltfaktoren als Ursache

"Die Vererbung ist aber längst nicht alles" sagt Rogler. "Gene, die das Risiko für CED erhöhen, wurden immer schon vererbt. Seit einigen Jahrzehnten erkranken aber immer mehr Menschen. Es müssen also Faktoren aus der Umwelt hinzukommen." Diesen ist Rogler und ein Team von Schweizer Gastroenterologen mit ihrer großen Kohortenstudie auf der Spur. Seit 2005 beobachten sie die Krankheitsentwicklung bei einer Gruppe von CED-Patienten, suchen nach Ursachen und testen neue Therapien.

Dass Rauchen das Risiko für Morbus Crohn erhöht, ist schon länger bekannt. Rogler hat noch drei andere Umweltfaktoren im Visier: Die Höhe, das Klima und die Ernährung. Sein Team fand heraus, dass Aufenthalt in Höhen über 2.000 Metern oder Langstreckenflüge bei einigen Patienten einen Schub verursacht, ebenso große Hitze. Bei der Ernährung verdächtigt Rogler Nanopartikel, etwa Titandioxid oder Aluminiumsilikate.

"Die werden immer öfter industriell gefertigten Nahrungsmitteln zugefügt, um Farbe, Konsistenz oder Haltbarkeit zu verbessern - etwa in Kochsalz, Beutelsuppen oder Gewürzmischungen", erklärt Rogler. Roglers Team wies nach, dass Titandioxid die Darmschleimhaut angreift und eine Entzündung auslöst. Gaben die Forscher gesunden Labortieren Titandioxid, passierte nichts. Verabreichten sie den Stoff jedoch Tieren mit Darmentzündung, wurde diese schlimmer.

Im Blut von Patienten mit aktiver Colitis ulcerosa wies Rogler erhöhte Titandioxid-Werte nach. "Es ist noch zu früh, konkrete Ernährungsempfehlungen zu geben", sagt Rogler. "Es schadet aber sicherlich nicht, Fast Food und anderes verarbeitetes Essen zu meiden." Patienten, die einen Langstreckenflug vor sich haben oder ins Gebirge fahren, empfiehlt er oft eine höhere Dosis der vorbeugenden Medikamente.

Dem Immunsystem helfen

"Die Schweizer Studie ist europaweit einzigartig, weil so viele Patienten eingebunden sind", sagt Herbert Tilg. "Wir diskutieren gerade, wie wir unsere Forschung vernetzen können." Tilg versucht einen anderen Ansatz: Er will dem defekten Immunsystem unter die Arme greifen. Sein Forscherteam versucht die Milliarden von Bakterien zu charakterisieren, die sich in einem gesunden Darm tümmeln. "Wenn wir die kennen, könnten wir eine "Gesunde-Darmflora-Lösung" herstellen, die wir den Patienten verabreichen", erzählt Tilg. "So könnten die krankmachenden Keime verdrängt werden und das bakterielle Gleichgewicht ist wieder im Lot."

Heilen können die Ärzte CED bisher nicht, sondern nur die Symptome lindern. Bei einem leichten Schub gilt beim Crohn Cortison als Therapie der Wahl, bei der Colitis Mesalazin oder Cortison. Bei schwereren Schüben werden Medikamente eingesetzt, die das Immunsystem stärker unterdrücken wie Azathioprin oder Methotrexat. Doch bei 15 Prozent der Patienten heilt die Entzündung zwischen den Schüben kaum ab, sondern ist ständig aktiv. Dann kommen Antikörper in Frage, die die Immunreaktion gezielter unterdrücken sollen, so genannte Biologika.

Die Antikörper Infliximab, Adalimumab, Golimumab und Vedolizumab blockieren auf unterschiedliche Weise die Weiterleitung von Entzündungssignalen. "Für Patienten mit schwerem Krankheitsverlauf sind Biologika ein Segen", sagt Rogler. "Sie können die Lebensqualität deutlich verbessern." Leider wirken sie aber nur bei jedem Zweiten. "Manche bilden vermutlich Abwehrstoffe gegen die Medikamente und machen sie dadurch unschädlich", sagt Rogler.

"Außerdem ist die Krankheit so hinterhältig, dass sie auf andere Signalwege ausweicht, die das entsprechende Biologikum gerade nicht trifft." Auch wenn sich das deprimierend anhört: "90 Prozent der Patienten können wir so gut behandeln, dass sie eine angenehme Lebensqualität haben", sagt Tilg. "Aber nur, wenn man CED rechtzeitig erkennt und richtig therapiert." (Felicitas Witte, DER STANDARD, 4.10.2014)