Martin Karplus: vor den Nazis geflüchtet, heute vereinnahmt.

Foto: OST Austria

Boston - Noch vor eineinhalb Jahren kannte kaum jemand in Österreich den Namen Martin Karplus. Vergangene Woche konnte er sich bei einem Empfang im ehrwürdigen Harvard Faculty Club in Cambridge der Anfragen heimischer Journalisten kaum erwehren. Der Grund für das plötzliche Interesse: Karplus, der 1930 in Wien geboren wurde und vor den Nazis flüchten musste, erhielt 2013 den Nobelpreis für Chemie.

Karplus, der Vertrauten sagte, dass er bei Interviews immer ein bisschen nervös ist und das deswegen gar nicht so gerne hat, hörte sich geduldig die Fragen an, stellte dann aber auch kritisch fest: "Österreich nützt mich aus." Jahrzehntelang habe sich niemand für ihn und seine Arbeit interessiert. "Nun bin ich plötzlich sehr interessant." Das gleiche Phänomen habe er bei seinen Freunden Walter Kohn (Chemie-Nobelpreis 1998) und Eric Kandel (Medizin-Nobelpreis 2000) beobachtet, die ebenfalls vertrieben worden und in Vergessenheit geraten waren und nach ihren Nobelpreisen von Österreich für Österreich entdeckt wurden.

Karplus ist dennoch nicht unversöhnlich. Deswegen erzählt er voller Hoffnung von einem Gespräch mit Bundespräsident Heinz Fischer, der im New Yorker Kulturforum kürzlich eine Ausstellung von Karplus-Fotos eröffnete. Photographs. 1953-2009 läuft hier bis zum 28. November. Gezeigt werden Landschaftsaufnahmen und Straßenszenen aus einer Welt, die es nicht mehr gibt. Die Fotos entstanden auf Reisen durch das Europa der Nachkriegsjahre oder in den 1950er-Jahren in Nord- und Südamerika. Im vergangenen Jahrzehnt reiste Karplus nach China und Japan - und machte auch hier zahlreiche Fotos.

Verändertes Österreich

Fischer habe ihm im Kulturforum gesagt, dass sich in Österreich viel geändert habe. "Wir werden sehen, ob das stimmt. Ich werde mir das wie ein Forscher genau anschauen", sagte er beim Pressegespräch. Karplus wird seine Bilder nämlich im Mai 2015 in Wien höchstpersönlich zeigen. Anlass: Die 650-Jahre-Feier der Universität Wien. "Ich kann ja keine Ausstellung zulassen und nicht dabei sein. Obwohl die Bilder natürlich viel interessanter sind, als ich es bin." Viele der Fotos wird er wohl mit der Leica geschossen haben, die ihm seine Eltern zum Abschluss am California Institute of Technology (Caltech) schenkten.

Mit dem internationalen Interesse für seine fotografischen Arbeiten verhält es sich übrigens nicht ganz so wie mit Österreichs plötzlichem Interesse für ihn. Die Bilder wurden schon gezeigt, ehe er den Nobelpreis erhielt. Im Sommer 2013 etwa wurde eine Auswahl daraus in der Pariser Bibliothèque nationale de France präsentiert.

Was hat sich für Karplus seit dem Nobelpreis geändert? Der Wissenschafter sagt in Anspielung auf die zahlreichen Anfragen, die nach derlei Würdigungen stets kommen: "Ich habe gelernt, Nein zu sagen." Ein jüngerer Kollege aus Harvard, ebenfalls Nobelpreisträger, habe ihm gesagt, er möge doch froh sein, dass er den Preis erst mit 83 erhalten habe. "So konnte ich wenigstens noch ein paar Jahre in Ruhe meine Forschungen machen." Er habe nach wie vor ein großes Interesse an Molekülen, die für das Leben von zentraler Bedeutung sind. Im Alltag spiele sich die Chemie aber hauptsächlich in der Küche ab. "Ich koche, und meine Frau macht den Rest." Als Koch habe er schon in Frankreich gearbeitet.

Manchmal nützt es Martin Karplus aber auch ganz gerne aus, nun Nobelpreisträger zu sein: Wenn es darum geht, ein wenig als Friedensstifter aktiv zu werden. Er ließ sich zum Beispiel von der Palestinian Chemical Society einladen, um an der Al-Quds University of East Jerusalem zu sprechen.

Im April dieses Jahres schrieb er für die bekannte israelische Tageszeitung Haaretz den Kommentar Two States in one Land: A Nobel Prize Chemist's Search for Peace. "Das war, bevor es im Gaza-Streifen wieder Krieg gab", räumt Karplus ein.

Er wird wohl wieder den Frieden suchen, wenn er es für nötig hält. Jetzt, da man ihn kennt, hat sein Wort mehr Bedeutung. (Peter Illetschko, DER STANDARD, 15.10.2014)