"Wir haben alle die gleichen Probleme", sagt Psychiater und Psychotherapeut Irvin Yalom.

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"Manchmal lasse ich meine Patienten eine Linie zeichnen, die das Leben darstellt. Von der Geburt bis zum Tod. Und dann frage ich: Wo bist du jetzt?" Wenn Psychotherapeut Irvin Yalom zu erzählen beginnt, geht es ganz schnell um die essenziellen Dinge. "Diese Übung kann schockierend sein, hilft aber zu erkennen, dass unsere Zeit begrenzt ist." Wichtig ist, sagt Yalom, sich mit der Vergangenheit zu versöhnen und rechtzeitig Frieden zu schließen, wo vorher Streit war.

Bekannte Reise

Im neuen Dokumentarfilm Film "Yaloms Anleitung zum Glücklichsein" (Original "Yalom's Cure") gibt der weltbekannte Therapeut und Bestsellerautor den Reiseleiter auf dem Weg zur Selbsterforschung. "Ich kenne die Reise gut, weil ich sie schon oft gemacht habe." Yalom gilt als bedeutendster lebender Vertreter der existenziellen Psychotherapie und blickt auf mittlerweile mehr als 50 Jahre professionelle Erfahrung zurück.

Noch länger auf am eigenen Leib verspürte Erfahrungen, denn bereits als Jugendlicher litt er unter extremer Schüchternheit und mangelndem Selbstwert. Als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in Washington blieb er immer der Außenseiter und hatte Schwierigkeiten, Vertrauen zu anderen aufzubauen. Er flüchtete sich in seine Bücher; rasch wurden Tolstoi und Dostojewski seine besten Freunde. Die beiden seien große Psychiater mit einer gewaltigen Menschenkenntnis gewesen, sagt der 83-Jährige heute. Inspiriert von seinen Vorbildern wollte er schon als Teenager einen Roman schreiben.

Schwieriges Verhältnis

Doch es kam zunächst anders: Als Yalom 15 Jahre alt war, verstarb sein Vater an einer Herzattacke, und das Verhältnis zu seiner Mutter wurde zunehmend schwieriger. "Sie wurde hysterisch, schrie mich an und warf mir vor, dass ich Schuld an seinem Tod habe. Als ich 15 war, haben wir drei Jahre lang fast kein Wort gewechselt. Ich fragte mich: Was kann ich tun, damit es ihr besser geht?" Und so entschied er sich zu einem Medizinstudium.

In Ausbildung und Arbeit merkte er rasch, dass es immer dieselben Dinge sind, die Menschen Probleme bereiten: Schwierigkeiten, Beziehungen aufzubauen oder alte in Ordnung zu bringen. Ungelöste Konflikte, die auch ungelöst bleiben, weil keiner einen Schritt auf den anderen zugeht. Und vor allem Angst. Angst zu versagen, sich selbst oder auch anderen nicht gerecht zu werden, und die Angst vor dem Alleinsein.

Dabei sind wir selten allein mit unseren Problemen: "Die Unausweichlichkeit des Todes, das Dilemma der Freiheit, die Frage nach dem Sinn des Lebens. All das betrifft uns alle. Der Tod bestimmt die Art zu leben, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht", sagt Yalom. Deshalb sei es ganz entscheidend, uns immer wieder vor Augen zu halten, wie wertvoll und endlich das Leben ist. Das ist auch die zentrale Aussage seiner Bücher, die die Grundlagen von Psychologie und Therapie nicht nur einem Fachpublikum, sondern auch einer breiten Bevölkerung näherbrachten.

Tod und Leben

Tief in Erinnerung blieb ihm eine Gruppentherapie mit Krebspatienten, die er während seines Studiums absolvierte. Es war aufwühlend und extrem anstrengend, doch auch zutiefst erhellend. "Oft lernt man kurz vor dem Tod erst wieder zu leben", sagt Yalom und meint die große Wachheit, wenn man die Endlichkeit am eigenen Leib spürt. Das müsse doch auch früher gehen, den Leuten ein Bewusstsein für den Moment und die Qualität des Lebens zu geben. Das wurde schließlich zu seinem Leitmotiv und zu seiner Hauptaufgabe. Zudem legte er immer größten Wert auf eine fast freundschaftliche Beziehung zwischen Therapeut und Patient.

Die wichtigsten Aufgaben der Psychotherapie seien es, einen anderen Blick auf sich selbst zu gewinnen, direktes Feedback auf Gedanken und Handlungen zu geben und alte Muster zu durchbrechen. "Trauer ist viel schwieriger, wenn die Dinge nicht bereinigt sind", sagt Yalom. Streitigkeiten solle man unbedingt lösen, bevor es zu spät ist - denn wenn der Tod kommt, sei der Konflikt für immer und ewig eingefroren und werde an die Nachkommen weitergegeben.

Kraft der Liebe

Im Zentrum des Films wie auch des Lebens steht die Liebe. Für Yalom heißt das, bedingungslos für jemanden da zu sein und im anderen immer wieder Neues zum Leben zu erwecken. Nur die Liebe schaffe es, alle unsere Ängste zu nehmen. "Das fragende, einsame 'Ich' löst sich in einem gemeinsamen 'Wir' auf. So löst man die Angst auf, verliert aber gleichzeitig auch ein bisschen sich selbst."

Dass die Liebe nur schwer mit seiner Arbeit vereinbar ist und es fast unmöglich ist, mit verliebten Patienten zu arbeiten, ist ihm freilich bewusst: "Der gute Therapeut bekämpft die Dunkelheit und sucht Erleuchtung, während die romantische Liebe alles verklärt und genauer Prüfung nicht standhält. Ich hasse es, der Henker der Liebe zu sein." Trotzdem ist sein Film ein einziges Plädoyer für das Leben und die Liebe und eine wunderbare Erinnerung an das, worauf es wirklich ankommt. (Florian Bayer, derStandard.at, 17.10.2014)