Ungern ließ sich Cédric Villani nicht fotografieren. Dieses Verhalten war wohl die logische Konsequenz seines Starlebens.

Foto: Heribert Corn

Wien - Die glatten halblangen Haare seitlich nach hinten frisiert und gerade abgeschnitten. Seine Frisur fällt mindestens so auf wie der Dreiteiler, den er trägt. Das weiße Hemd darunter hat einen Stehkragen, den eine karminrote Künstlerschleife ziert. Und am Sakko findet sich eine Spinnenbrosche: Würde man nicht ganz genau wissen, dass hier Cédric Villani steht, der vermutlich berühmteste Mathematiker der Gegenwart, man würde an eine Reinkarnation von Oscar Wilde denken. Aber was steckt dahinter? Ist Villani ein Mensch, der sich im Outfit des 19. Jahrhunderts nicht nur wohlfühlt, sondern auch im Geiste dieser Epoche lebt? Ein Dandy, der die Kunst um der Kunst willen liebt? Kann so jemand schon seit fünf Jahren Direktor des Institut Henri Poincaré in Paris, einer renommierten Denkwerkstatt für Mathematik und theoretische Physik, sein? Als er diese Position einnahm, war er erst 36 Jahre alt.

Villani weiß mit den Medien umzugehen: Im Standard-Interview spielt er das Outfit herunter und versucht andererseits die Fantasien darüber anzustacheln: "Es gibt keinen Grund für meinen Stil. Ich mag ihn einfach. Und über die Spinnenbrosche möchte ich nichts sagen. Das ist mein Geheimnis." Das wirkt natürlich divenhaft, gehört aber zur Eigenvermarktung des prominenten Wissenschafters, den man "Lady Gaga der Mathematik" nennt. Beim kurzen Fototermin wirkt er nicht nur geduldig. Er blickt in die Kamera wie jemand, der die neuste Mode aus Paris vorführen soll.

Die Kunst des Geschichtenerzählens

Während des Vortrags am IST Austria in Maria Gugging schlüpft Cédric Villani, der für seine Arbeiten 2010 die Fields-Medaille, den "Nobelpreis der Mathematik", erhielt, in eine andere Rolle: in die des hochprofessionellen Wissenschaftsvermittlers. Er erzählt von hochkomplexen mathematischen Überlegungen, die zunächst selbst interessierte Laien erschaudern lassen. Am Ende des Vortrags dürfen sie sich aber wenigstens einbilden, etwas verstanden zu haben. Und das hat einen guten Grund: Villani beherrscht die Kunst des Geschichtenerzählens.

Er berichtet vom Mathematiker Bernhard Riemann und dessen Studien über eine Geometrie, in der nur Krümmungen eine Rolle spielen. Danach gesteht er - zum wiederholten Male - seine Liebe zur Boltzmann-Gleichung, die besagt, dass die Unordnung bei der Ausbreitung eines Gases irreversibel zunimmt. Und zuletzt ergänzt er seine Ausführungen noch mit Gedanken über den sowjetischen Mathematiker und Ökonom Leonid Witaljewitsch Kantorowitsch, der sich mit der Kostenoptimierung in Transport und Produktionssystemen beschäftigte. Schließlich sagt er auch noch, dass es zwischen all diesen Themen Zusammenhänge gibt. Villani selbst hat sie gemeinsam mit Kollegen herausgefunden und spricht vom Experiment mit dem faulen Gas.

Die Suche nach Erkenntnis

Muss man das alles logisch nachvollziehen und bis in die Fundamente der Mathematik verstehen? Sicher sollte man, als von Wissensdrang getriebener Mensch vor allem. Villani sieht das vermutlich nicht ganz so eng und zeigt ein weiteres Gesicht, das des genialen Denkers, der schon weiß, wie schwierig es sein kann, ihm zu folgen, aber dafür das größte Verständnis hat.

Immer wieder macht er selbstironische Witze über höhere Mathematik, über die vielen Schleifen, die Vertreter seiner Profession drehen, um zur tatsächlichen Erkenntnis zu kommen. Und im Interview betont er, angesprochen auf sein Buch "Das lebendige Theorem" (S. Fischer, 2013), in dem er seitenweise Formeln auflistet, die vermutlich nicht einmal alle Experten verstehen: "Natürlich verstehe ich selbst sehr gut, welche Formeln ich da hingeschrieben habe. Ich verwende sie im Buch aber nur zu Dekorationszwecken. Viel wichtiger ist mir das, was zwischen den Formeln steht, wo ich unseren Job als Mathematiker beschreibe, wo ich erzähle, wie wir arbeiten." Und er ergänzt: "Das ist wie eine fremde Sprache, wie die Runen in Tolkiens 'Herr der Ringe'. Als ich als Kind diese Bücher las, verstand ich diese Schrift auch nicht. Die Runen sind aber als Illustration ideal, um sich in die Abenteuer der Hobbits hineinversetzen zu können."

Formeln sind Literatur

Villani vergleicht Formeln mit Literatur: Auch Poesie müsse man nicht immer verstehen. Also doch Kunst um der Kunst Willen? Nein, nur eine ideale Methode, um Leser und Zuhörer, die nicht alles verstehen, bei Laune zu halten. Für Cédric Villani selbst ist Mathematik einfacher als das alltägliche Leben. Er sagt: "In meinem Fach können sie alles überprüfen. Das Ergebnis zeigt: Etwas ist wahr oder nicht wahr. Im Alltag begegnen wir aber vor allem irrationalem Verhalten, und zwar nicht nur, wenn Gefühle im Spiel sind. Auch die Politik und die Wirtschaft sind voll davon."

Dass Mathematiker, die so denken, sich in Studierstuben zurückziehen, wäre eine falsche Schlussfolgerung. Villani ist genau das Gegenteil von einem einsamen Denker. Das betont er auch im Interview: Natürlich sei es gut, die Mathematik zu haben und sich auf sie verlassen zu können. Aber ich schätze auch sehr, dass es so viel Irrationalität im Leben gibt." Cédric Villani ist eben eine lebendige Formel. (Peter Illetschko, DER STANDARD, 8.11.2014)