Anna Coutsoudis ist Kinderärztin an der medizinischen Universität KwaZulu Natal in Durban/Südafrika und engagiert sich für Kinder- und Jugendgesundheit. Dabei wird sie von der Kindernothilfe Österreich unterstützt.

Foto: Karl Michalski

STANDARD: In Südafrika leben 6,3 Millionen HIV-Infizierte. Es ist die höchste HIV-Rate der Welt. Warum?

Coutsoudis: Es gibt viele Gründe dafür - einer davon ist, dass die Regierung unseres Landes im Gegensatz zu anderen afrikanischen Ländern das Problem lange Zeit unterschätzt und nicht gehandelt hat. Die Regierung in Uganda hat zum Beispiel sehr schnell Programme zur HIV-Aufklärung und -Prävention gestartet. Südafrika nicht. Wir kämpfen heute mit den Folgen.

STANDARD: Was meinen Sie genau?

Coutsoudis: Fast jeder fünfte Erwachsene zwischen 15 und 49 Jahren ist infiziert. 60 Prozent davon sind Frauen, das ist ein großer Unterschied zur westlichen Welt. Damit steigt aber auch das Risiko, dass diese Frauen die Erkrankung an ihre Kinder weitergeben. Wir haben 9000 HIV-positive Kinder, aber auch 2,3 Millionen Waisenkinder, deren Mütter gestorben sind. Im Raum Durban kümmern wir uns um solche Probleme.

STANDARD: Wie steht es mit dem Wissen um die Erkrankung?

Coutsoudis: Ich denke, jeder in Südafrika weiß heute, was HIV ist und wie er sich davor schützen kann. Doch Menschen, die arm und arbeitslos sind oder Gewalt ausgesetzt sind, leben in einer großen Hoffnungslosigkeit, die mit einer Vernachlässigung eigener Bedürfnisse einhergeht. Bei HIV ist genau das das allergrößte Problem, weil unter solchen Voraussetzungen das Virus floriert, sich besonders gut verbreitet.

STANDARD: Haben Menschen in Südafrika Zugang zu den Medikamenten?

Coutsoudis: Ja, absolut. Die Regierung stellt die Medikamente zur Verfügung. Ein großes Problem bleibt, sie zu den Menschen in den ländlichen Gebieten zu bringen, ihnen Zugang zu ermöglichen. Es geht auch darum, Betroffenen klarzumachen, dass sie die Medikamente weiter nehmen, auch wenn es ihnen wieder gut geht.

STANDARD: Schaffen Sie das?

Coutsoudis: Zunehmend ja, allerdings ist es eine Illusion zu glauben, dass sich die HIV-Infektion allein durch Medikamente eindämmen ließe. Die Erkrankung ist nur dann unter Kontrolle, wenn es entsprechende soziale Rahmenbedingungen gibt, also Anlaufstellen für Probleme, Aufklärungskampagnen, Programme, die den Selbstwert eines Menschen und damit die Eigenverantwortung fördern.

STANDARD: Gibt es entsprechende Sozialprogramme in Südafrika?

Coutsoudis: Nein, der Staat stellt ausschließlich Medikamente zur Verfügung. Unser Projekt in Durban ist durch die Unterstützung der Kindernothilfe Österreich möglich.

STANDARD: Was wird mit sozialen Programmen besser?

Coutsoudis: Armut triggert jede Erkrankung und ganz besonders HIV. In Südafrika ist die Gesellschaft sehr machistisch, Frauen haben wenige Rechte und damit wenig Selbstbestimmtheit. Sie müssen sich dem Willen von Männern unterordnen. Es gibt zum Beispiel die sogenannten "Sugardaddys", die sich junge Mädchen quasi kaufen. Es gibt aber auch extrem viele Vergewaltigungen, und gerade in diesen Kreisen grassiert HIV. Wenn die Frauen sterben, bleiben die Kinder zurück, auch um sie kümmert sich niemand. Das macht sie zu einer neuen Risikogruppe. Solche Teufelskreise versuchen wir zu durchbrechen.

STANDARD: Wie genau geht das?

Coutsoudis: Indem wir Menschen davon überzeugen, Einfluss auf ihr Leben zu haben. HIV wird nicht von Moskitos übertragen, man ist nicht ausgeliefert. Es hat viel mit Respekt, mit Selbstermächtigung, mit Sensibilisierung zu tun. Wir wissen, dass wir mit unseren Programmen bereits in den Volksschulen beginnen müssen. Bei Kindern hat man noch gute Chancen. Oft erreichen wir mit solchen Programmen auch die Eltern.

STANDARD: Was macht Ihnen Sorgen?

Coutsoudis: Natürlich die Kinder. Es gibt kaum Medikamente für Babys, die ja die HIV-Tabletten gar nicht schlucken können. Wir brauchen die Hilfe von Pharmafirmen, die kindgerechte Medikamente für die vielen armen Staaten dieser Welt entwickeln. Denn bei uns ist das Problem HIV noch lange nicht gelöst. (Karin Pollack, DER STANDARD, 29.11.2014)