Gegen die Diktatur der Uhr: Für den Film "Speed - Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" fand Regisseur Florian Opitz in Berlin dieses haushohe Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben.

Foto: Filmstill aus "Speed - Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" / Opitz

STANDARD: Bei Ihren Recherchen zum Film und Buch "Speed" haben Sie mit Aussteigern, aber auch Beschleunigern unserer Arbeitswelt gesprochen. Was hat sich seither in Ihrem Leben geändert?

Opitz: Ich habe gelernt, mein Leben ein Stück weit zu entschlacken. Wenn man auf eine gewisse Anzahl von Tätigkeiten verzichtet und eine richtig macht, sich also zum Beispiel ein Buch nimmt, ein Album hört oder ein Theaterstück sieht, dann ist das auch wieder etwas, das einen Wert bekommt. Immer mehr Leute jammern über den Verlust an wirklichen Erlebnissen, die man im Herzen behält.

Mit 16 bin ich in meiner Kleinstadt in den Plattenladen gegangen und habe dort ganze Nachmittage verbracht, vielleicht ein, zwei Platten gekauft und sie wochenlang gehört. Diese Musik trage ich immer noch in mir, ich habe sie auf meiner Hochzeit spielen lassen, weil sie Erinnerungen in mir hervorruft, weil ich viel Zeit damit verbracht habe. Heute habe ich einen iPod mit 80 Gigabyte Musik, das sind zwei Millionen Songs, geschätzt. Das führt dazu, dass wir tendenziell viel mehr hören und sehen können, aber weniger eine Beziehung zu einem Stück aufbauen, weil wir damit nicht mehr so viel Zeit verbringen.

STANDARD: Der Verzicht ist oft nur möglich, wenn man sich gewissen äußeren, aber auch inneren Zwängen entzieht.

Opitz: Das Problem hat eine individuelle, aber eben auch eine gesellschaftliche Seite. Unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist auf ständiges Wachstum und Beschleunigung angelegt. Wir haben mittlerweile eine Geschwindigkeit erreicht, die die meisten Menschen als nicht mehr positiv oder förderlich empfinden. Und trotzdem müssen wir jedes Jahr ein bisschen schneller laufen, damit wir unseren Status halten. Das wird uns auch von der Politik eingetrichtert.

STANDARD: Warum machen alle Gesellschaftsschichten so bereitwillig mit?

Opitz: Da spielen psychologische Mechanismen eine große Rolle. Viele glauben, es wird ihnen negativ ausgelegt, wenn sie nicht dauernd erreichbar sind.

Die meisten sind aber heute nicht mehr in einem klassischen Anstellungsverhältnis, sondern selbstständig. Man ist selbst derjenige, der auf sich aufpasst und Grenzen ziehen muss. Das fällt vielen perfektionistischen Menschen schwer.

STANDARD: Ist die Selbstständigkeit ein Ausweg aus dem Hamsterrad?

Opitz: Nur weil man keinen Chef hat, ist nicht alles easy. Die Mechanismen in dem jeweiligen Markt, in dem man sich befindet, verpflichten einen ja zu einer gewissen Leistung. In meiner Generation kenne ich viele, die nach jahrelangem freiberuflichem Dasein mit Ende 30 draufgekommen sind, dass sie mit dem Angestelltensein viel besser fahren. Weil es eine Struktur gibt im Leben. Mit Urlaubszeiten, festen Arbeitszeiten. Der Burnout-Faktor bei Selbstständigen ist zum Teil größer als bei Angestellten. Weil es oft keine Grenze mehr zwischen der Arbeit und Freizeit gibt.

STANDARD: Sehen Sie es als Gefahr, dass Arbeits- und Privatleben am Verschwimmen sind?

Opitz: Absolut. Viele Arbeitgeber haben nicht das Wohlbefinden der Menschen im Sinn, wenn sie zum Beispiel Kindergartenplätze einrichten, damit sich Beruf und Familie besser koordinieren lassen. Man braucht ja nur auf den Spielplatz schauen, wo Eltern mit dem Handy sitzen und noch mit halbem Ohr und Kopf in der Arbeit sind, wenn die Kinder schaukeln.

So wie die Menschen am Anfang der industriellen Revolution lernen mussten, mit Maschinen umzugehen, müssen wir lernen, mit digitalen Geräten so umzugehen, dass wir ihren Nutzen abschöpfen können, aber uns von ihnen nicht unter Druck setzen lassen. Es ist wichtig, dass wir die Regeln setzen und nicht die Maschinen. Politik und Wirtschaft hätten das sehr gerne. Deshalb bin ich ganz konservativ für den Erhalt des Sonntags und der derzeitigen Öffnungszeiten.

Da wundert man sich in der Familienpolitik, dass so viele Familien zerbrechen, aber gleichzeitig schafft man die Voraussetzungen dafür, dass es keine gemeinsamen Familienzeiten mehr gibt. Viele Leute haben mittlerweile erkannt, dass mit "immer mehr und immer schneller" kein Fortschrittsglaube verbunden ist, sondern ein Zwang, der Menschen unter Druck setzt.

STANDARD: Folgt auf die Welle der Beschleunigung auch eine Entschleunigung?

Opitz: Wenn wir aus dem großen Hamsterrad rauswollen, müssen wir an das System ran. Der Kapitalismus ist jetzt gerade einmal 200 Jahre alt, auf die Spitze getrieben, und wir sehen, dass es an allen Ecken und Enden knirscht und knarrt. Ökologisch, zeitlich, finanziell und wirtschaftlich.

Was nicht geht, ist zu sagen: Wir behalten den Wohlstand, können für wenig Geld überall hinfliegen, billige Produkte kaufen, aber wollen gleichzeitig alles etwas langsamer haben. Dafür müssen wir auch auf Materielles verzichten.

STANDARD: Wie kann man Kinder dazu erziehen, sich Auszeit von der Reizüberflutung zu nehmen?

Opitz: Alles, was man über den Bildschirm bekommt, sind Second-Hand-Erfahrungen. Das merken auch Kinder nach einer Zeit und wollen zum Beispiel raus in die Natur. Meiner Meinung nach ist es Blödsinn, Kinder schon im Kindergarten an den PC heranzuführen. Fernsehen und PC sind zwar offenbar viel interessanter als Holzspielzeug oder Lego, aber es stopft die Kanäle zu.

STANDARD: Sind Menschen, die die Zeit "im Griff" haben, glücklicher?

Opitz: Das sind natürlich dehnbare Worte. Menschen, die die Zeit insofern im Griff haben, dass sie ihre Abläufe minutengenau getaktet haben, kommen möglicherweise besser durchs Leben. Glücklich sind die, die wissen, was ihnen wichtig ist, und auf sich und ihre Bedürfnisse hören. (Teresa Eder, DER STANDARD, 6.12.2014)