Andy Weir: "Der Marsianer"

Broschiert, 512 Seiten, € 15,50, Heyne 2014 (Original: "The Martian", 2014)

Alle lieben Mark Watney, den Astronauten, der durch eine Panne allein auf dem Mars zurückbleibt - mit einem Vorrat, der nach Tagen bemessen ist, während es bis zum Eintreffen einer Rettungsexpedition Monate oder gar Jahre dauern wird. Wie sich Mark mit Humor und Improvisationstalent daranmacht, dem scheinbar unentrinnbaren Schicksal vielleicht doch noch ein Schnippchen zu schlagen, ließ "Der Marsianer" zu einem der sympathischsten Bücher des vergangenen Jahres werden. Und zu einem Riesenerfolg.

Jetzt bleibt nur eine bange Frage übrig: Ridley Scott verfilmt den Stoff, und Matt Damon spielt Mark. Wie er sich da wohl machen wird?

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Coverfoto: Heyne

Jeff VanderMeer: "Area X: The Southern Reach Trilogy"

Gebundene Ausgabe, 608 Seiten, FSG Originals 2014

In der besten Mystery des Jahres betreten wir ein Gebiet im Südosten der USA, das äußerlich unverändert scheint, sich aber in Wirklichkeit in etwas unsagbar Fremdes verwandelt hat. Und jeder Mensch, der in diese Area X vordringt, wird ebenfalls für immer verändert. Mehr sollte man gar nicht verraten, denn Jeff VanderMeers atmosphärische "Southern Reach"-Trilogie lebt vor allem davon, wie meisterlich sie die Balance zwischen schrittweiser Aufklärung des Phänomens und Bloß-nicht-zuviel-verraten hält. Und das wirklich bis zum Schluss!

Da kann sich jetzt jeder aussuchen, wie er das lesen möchte: Als Einzelbände im Original, in der deutschen Übersetzung vom Kunstmann-Verlag (zweiter Teil frisch heraußen, der dritte folgt Anfang März) oder zusammengefasst als englischsprachiger Deluxe-Sammelband. Aber Hauptsache lesen!

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Coverfotos: FSG/Kunstmann

Ted Chiang: "Das wahre Wesen der Dinge"

Broschiert, 281 Seiten, € 17,40, Golkonda 2014

Mit diesem Band und dem zwei Jahre zuvor erschienenen "Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes" hält man praktisch das 20-jährige Gesamtwerk Ted Chiangs in Händen. Jaja, das ist vom Volumen her kein beeindruckender Output - aber die Qualität! Niemand sonst versteht es so gut wie Chiang, wissenschaftliche Theoreme und gesellschaftliche Konzepte in luzide Erzählungen zu verwandeln. Ob Numerologie, Political Correctness oder die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz: Chiang unterzieht alles einer eingehenden Prüfung und verblüfft uns anschließend mit einem Aha-Erlebnis nach dem anderen.

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Coverfoto: Golkonda

K. J. Parker: "Academic Exercises"

Gebundene Ausgabe, 529 Seiten, Subterranean Press 2014

"Homo homini lupus" ... da man in K. J. Parkers renaissanceartiger Fantasywelt eine Art Latein spricht, dürfte man diese Worte dort gut verstehen. Es ist gleichzeitig das Motto dieser Welt, in der nicht Orks und Dunkle Lords das Böse verkörpern, sondern die Raffsucht, die Feigheit und der Egoismus von ganz normalen Menschen. Das ist bitterböse und gleichzeitig über alle Maßen vergnüglich zu lesen.

K. J. Parkers Erzählungen glänzen mit Scharfsinn, überraschenden Twists, Erzählern, denen man keinen Zentimeter über den Weg trauen sollte, und derart zynischem Humor, dass George R. R. Martin daneben wie Mutter Beimer wirkt.

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Karl Schroeder: "Lockstep"

Gebundene Ausgabe, 351 Seiten, Tor Books 2014

Fulminanter Stil, raffinierte Erzählstruktur, politische Scharfsicht und geistreiche kulturelle Verweise ... gut und schön, wenn ein Roman das alles hat. Aber mal ehrlich: Was war es noch mal schnell, warum wir ausgerechnet Science Fiction lesen? Weil uns neue Ideen fesseln.

Wie die von Karl Schroeder, der einen Weg gefunden hat, das Hindernis der Lichtgeschwindigkeit zu umgehen: Eine komplette interstellare Gesellschaft geht im Takt mit den Raumschiffen, die zwischen den einzelnen Planeten hin- und herpendeln, für Jahre in den Winterschlaf, um dann synchron mit den Reisenden eine kurze Wachzeit zu durchleben. Eine ebenso einfache wie geniale Idee mit verblüffenden Konsequenzen!

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Daryl Gregory: "Afterparty"

Gebundene Ausgabe, 302 Seiten, Tor Books 2014

Ein wunderbar skurriler Roadtrip durch eine Welt, in der Designerdrogen aus dem 3-D-Drucker von jedermann produziert werden können. Und zwar nicht bloß simple Rauschmittel, sondern auch Substanzen, die die Persönlichkeit des Konsumenten komplett verändern. Eine davon ist jedoch gefährlicher als alle anderen: Numinous, die Droge, die dich Gott sehen lässt ...

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Benjamin Percy: "Roter Mond"

Gebundene Ausgabe, 640 Seiten, € 20,60, Penhaligon 2014 (Original: "Red Moon", 2013)

Die jüngsten Terroranschläge lassen diesen Roman noch beklemmender wirken als zum Zeitpunkt seines Erscheinens. Zwar dreht sich Benjamin Percys "Roter Mond" um Werwölfe, doch haben diese mit den bis zum Erbrechen totgeschriebenen Bad-Boy-Beaus der Urban Fantasy und Romantasy rein gar nichts gemein. "Roter Mond" beschreibt den eskalierenden Konflikt zwischen dem Staat und gewaltbereiten Extremisten aus einer ethnischen Minderheit (hier eben: "Lykaner"). Stufe um Stufe schaukelt sich dieser Konflikt hoch, bis schließlich ... puh.

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Coverfoto: Penhaligon

James Tiptree Jr.: "Doktor Ain"

Gebundene Ausgabe, 440 Seiten, € 23,90, Septime 2014

Einen Direktvergleich vom Anfang und Ende einer Schriftstellerkarriere ermöglichte uns heuer der Septime-Verlag mit dem Erscheinen zweier Bände: "Sternengraben", in dem Tiptrees bzw. Alice B. Sheldons Stern bereits am Erlöschen war - und diesem hier, in dem er gerade strahlend aufging. Vom Irrwitz einer interplanetaren Wirtschaftswunderwelt bis zu einem Avatar von Mutter Erde, der einen Biologen zur Auslöschung der Menschheit animiert: Außer den Tiptree-Dauerbrennerthemen Liebe und Tod enthalten die in "Doktor Ain" versammelten Kurzgeschichten auch noch etwas später Verlorengegangenes: eine nicht zu verachtende Dosis turbulenten Humor.

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Coverfoto: Septime

Jack Skillingstead: "Life on the Preservation"

Broschiert, 405 Seiten, Solaris Books 2014

Ohne großen Medienrummel ist dieses Buch erschienen, das dennoch zu meinen Lieblingen von 2014 gehört: Nach einem Alien-Angriff ist die Erde eine vergiftete Wüste, in der nur noch ein paar dahinsiechende Überlebende existieren. Bis auf Seattle: Dort lebt man noch so unbeschwert wie früher, denn der Kalender zeigt immer noch den Tag vor der Attacke ... und mit jedem Morgen kehrt derselbe Tag wieder. Ein Mystery-Roman mit "Matrix"-ähnlichem Szenario und sehr viel Menschlichkeit.

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Coverfoto: Solaris

Stephen Baxter: "Proxima"

Broschiert, 669 Seiten, € 11,30, Heyne 2014 (Original: "Proxima", 2013)

Ich stelle mir das so vor: Stephen Baxter reicht ein Konzept für einen neuen Roman ein und wird daraufhin von seinem Verlag unter Rundumdieuhrüberwachung durch zehn Lektoren gestellt, damit er nicht wieder zu viele Ideen reinpackt. Dann sind seine Aufpasser nur für eine Minute abgelenkt, und wusch! schon drängelt sich auf den Seiten wieder Stoff für vier Bücher. Darn!

Doch selbst wenn es Baxter in "Proxima" einmal mehr ein bisschen zu gut meinte, sorgt die Haupthandlung für Sense of Wonder: Zwangsrekrutierte müssen sich auf einem fremden Planeten als Amateur-Pioniere bewähren, während daheim im Sonnensystem die ehrfurchtgebietende Hinterlassenschaft einer fremden Zivilisation entdeckt wird. Diverse Überraschungseffekte sorgen dafür, dass man der Fortsetzung "Ultima" gebannt entgegensieht; erscheint auf Deutsch im September.

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Coverfoto: Heyne

John Harris: "Beyond the Horizon. The Art of John Harris"

Gebundene Ausgabe, 160 Seiten, Titan Books 2014

An Bildbänden zeitgenössischer Science-Fiction-Illustratoren mangelte es 2014 nicht: Ob Jim Burns ("Hyperluminal"), Fred Gambino ("Dark Shepherd") oder eben John Harris; im Februar kommt zudem nach Jahren mal wieder ein neuer "Structura"-Band von Nicolas Bouvier alias "Sparth" heraus. Mein Favorit ist Harris: Nicht nur, weil seine Maschinen stets so aussehen, als stünden sie gerade mitten im interstellaren Arbeitsleben. Sondern auch, weil mich sein Stil ein bisschen an den großen Chris Foss erinnert, der für mich für alle Zeiten definiert hat, wie Raumschiffe auszusehen haben.

Bilder sagen zumindest in diesem Fall eindeutig mehr als 1.000 Worte. Hier daher ein halbstündiges Video mit Arbeiten von John Harris und einem Interview:

Beyond The Horizon - The Art of John Harris

Coverfoto: Titan Books

Andrej Rubanov: "Chlorofilija"

Broschiert, 428 Seiten, € 10,30, Heyne 2014 (Original: "Chlorofilija", 2009)

Eine russische Satire auf die "Konsum über alles"-Mentalität mit gelungener Symbolik: Während zwischen den Wolkenkratzern Moskaus gigantische Grashalme in den Himmel wachsen, versinken die menschlichen BewohnerInnen der Metropole allmählich und ohne es zu bemerken selbst in einem vegetativen Zustand: Essen, trinken, Party machen und bloß nicht zuviel nachdenken - doch die "Ideologie des absoluten Wohlstands" wird noch ihren Preis fordern.

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Coverfoto: Heyne

Darin Bradley: "Chimpanzee"

Gebundene Ausgabe, 208 Seiten, Underland Press 2014

Occupy your mind: "Chimpanzee" ist ein weiteres Beispiel für den aktuellen Trend zu leisen und damit umso realistischeren Untergangsszenarien. Weil die Wirtschaftslage immer schlechter wird und der Akademiker Benjamin seinen Studienkredit nicht mehr abstottern kann, wird ihm sein "unbezahltes" Fachwissen aus dem Gedächtnis gelöscht. Stück für Stück verliert Benjamin seine Persönlichkeit - bis er ungeplant eine neue Studentenbewegung inspiriert: Zeit, sich zu wehren!

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Coverfoto: Underland Press

Geoff Ryman: "Pol Pots wunderschöne Tochter"

Broschiert, 218 Seiten, € 15,40, Golkonda 2014

Mit großem Detailreichtum und viel Gefühl entführt uns Geoff Ryman in eine Welt der nahen Zukunft, in der Science Fiction und Magic Realism zu einem atmosphärisch dichten Ganzen verschmelzen. Am liebsten siedelt Ryman seine Erzählungen in Südostasien an - um zwischendurch dann wieder etwas ganz Anderes zu bringen: Etwa wenn eine seiner Figuren eine biologische Erklärung für Homosexualität findet, an die wirklich niemand gedacht hätte.

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Coverfoto: Golkonda

Iain Banks: "Die Wasserstoffsonate"

Broschiert, 700 Seiten, € 16,50, Heyne 2014 (Original: "The Hydrogen Sonata", 2012)

Utopische Gesellschaften sind starr und so aufregend wie Kamillentee - nur eine nicht: Die schlicht "Kultur" genannte Zivilisation, die uns der 2013 leider, leider verstorbene Iain Banks in einer Reihe von Romanen ans Herz gelegt hat, ist ein anarchisches Gewurl aus Selbstverwirklichung und Spaß an der Freud, an dem die humorlosere galaktische Nachbarschaft verzweifelt.

"Die Wasserstoffsonate" ist sicher nicht der beste der "Kultur"-Titel. Aber immer noch ein sehr schöner Roman und zugleich der wehmütige Abschluss einer Reihe, die eine ganze Generation von SF-LeserInnen geprägt hat.

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Coverfoto: Heyne

Sharona Muir: "Invisible Beasts"

Broschiert, 254 Seiten, Bellevue Literary Press 2014

Hilfe! Wie beschreibt man dieses bezaubernde kleine Buch, ohne dass es nach kopflastiger Kunstkacke klingt und jeder "Hui, wie faaaad" denkt? Geht nicht, also machen wir's kurz: Die Erzählerin dieser Mini-Enzyklopädie kann Tiere sehen, die für die meisten Menschen unsichtbar sind. Und die skurrilen Lebensgewohnheiten dieser mal mehr, mal weniger metaphorischen Tiere spiegeln in witziger Weise das menschliche Verhalten wider.

Erfrischend anders als alles andere, was 2014 im Großraum Fantasy erschien - und es gibt also tatsächlich Frauen, die Sharona heißen!

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Coverfoto: Bellevue Literary Press

Harlan Ellison: "Ich muss schreien und habe keinen Mund. Erzählungen"

Broschiert, 671 Seiten, € 19,60, Heyne 2014 (Original-Zusammenstellung)

Im englischsprachigen Raum wurde Harlan Ellison stets zu den ganz Großen gezählt, im deutschsprachigen kam er nie so recht über den Status Geheimtipp hinaus. Ein Grund mehr, diesen Sammelband mit Kurzgeschichten zu lesen. Die Palette reicht von der postapokalyptischen Zweierbeziehung "Ein Junge und sein Hund" über ein Häuflein Menschen, das in einer virtuellen Folterhölle gefangen ist (die Titelgeschichte), bis zur zauberhaften Aufhebung der Zeit in "Jeffty ist fünf". Es sind auch ein paar reichlich prätentiöse Allegorien darunter, aber das würzt die Mischung.

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Coverfoto: Heyne

Zweimal Frankenstein-Szenarien fürs 21. Jahrhundert

Sowohl in Jon Wallaces "Barricade" als auch in Will McIntoshs "Defenders" hat die Menschheit Kunstwesen erschaffen, die ihr anschließend den Krieg erklärten; witzigerweise sind beide Autoren zudem auf die Idee gekommen, dass diesen Kunstwesen jede Empathiefähigkeit weggezüchtet wurde.

Während aber im schwarzhumorigen "Barricade" die Menschheit den Kampf der Spezies längst verloren hat, kommt es in McIntoshs Kriegstagebüchern zu einem mehrfachen Fronten- und Bündniswechsel zwischen Menschen, Defenders und jenem Alien-Volk, zu dessen Bekämpfung die Defenders überhaupt erst geschaffen wurden. Beide Bücher sind überaus spannend - dennoch leichter Punktesieg für Wallace.

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Coverfotos: Gollancz/Orbit

Sexploitation!

In Kieran Sheas Tarantino-mäßiger Pulp Fiction "Koko Takes A Holiday" wird Puffmutter Koko von einem Rudel Killerinnen über die Erde gejagt. Zum Glück war sie früher Söldnerin, so kann sie aus allen Rohren zurückballern.

Und wem das noch nicht exploitativ genug ist, der bewundere, wie in Mykle Hansens "I, Slutbot" eine ehemalige Sexroboterin zur Herrscherin der Welt wird. Einer Welt, die so schön menschenleer und tot sein könnte, würden zu Slutbots Verdruss nicht ständig lästige Mannsbilder aus dem Weltraum einschweben ...

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Coverfotos: Titan Books/Eraserhead Press

Novellen

Dinge, die ich festlegen würde, wenn ich der Herrscher der Welt wäre, Nr. 18: Das neue Default-Format der Erzählung ist die Novelle. Romanveröffentlichungen müssen vorab glaubwürdig begründet werden, für Trilogien gibt es nur Ausnahmegenehmigungen mit strengem Fadgas-Emissionszertifikat.

Zwei sehr schöne Beispiele dafür, dass es nicht aberhunderte Seiten braucht, um faszinierende Geschichten zu erzählen, sind diese beiden Titel. In Timothy Browns "Polaris" gleitet ein Mann in seinem Luxusauto durch die postapokalyptische Wüste und bemerkt nicht, wie ihm mitgespielt wird. Und in Ursula K. Le Guins spät, aber doch ins Deutsche übersetztem "Paradises Lost" verkehren sich Vorstellungen von Diesseits und Jenseits raffiniert ins Gegenteil, wenn die Insassen eines Generationenschiffs vor der entscheidenden Frage stehen: Wollen wir unseren Zielplaneten überhaupt noch erreichen oder haben wir nicht längst unseren Himmel an Bord des Raumschiffs gefunden?

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Coverfotos: Atlantis/PS Publishing

Wiederveröffentlichungen

Aus der gar nicht so kurzen Reihe an deutschsprachigen Wiederveröffentlichungen im letzten Jahr seien diese drei herausgegriffen: Zum ersten Ursula K. Le Guins Genderrollen über den Haufen werfender Meilenstein "Die linke Hand der Dunkelheit" aus dem Jahr 1969. Dann aus jüngerer Vergangenheit "Perdido Street Station", der erste Besuch, den uns China Miéville in seiner barock-bizarren Welt von Bas-Lag gewährte. In Sachen Überkandideltheit wird Miévilles Mischung aus SF, Horror, Fantasy und Marxismus nur vom expressionistischen Irrsinn in Thea von Harbous "Metropolis", dem Roman zum Film, übertroffen. Muss man gelesen haben, um es zu glauben!

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Und damit verlassen wir den Schnelldurchlauf und widmen uns noch ein paar bis dato nicht vorgestellten Büchern in ausführlicherer Form.

Coverfotos: Heyne/Milena

Das große Primatenpaket

Pierre Boulle: "Planet der Affen". Broschiert, 240 Seiten, € 13,20 (Original: "La planète des singes", 1963) / Greg Keyes: "Planet der Affen: Revolution. Feuersturm". Broschiert, 360 Seiten, € 13,20 (Original: "Dawn of the Planet of the Apes: Firestorm", 2014) / Daryl Gregory, Carlos Magno & Diego Barreto: "Die Chroniken von Mak". Graphic Novel, gebundene Ausgabe, 448 Seiten, € 41,00 (Original: "Planet of the Apes"-Reihe von Boom! Studios, 2011-2013), alle Cross Cult 2014

Schlusstwists. Der erste "Planet der Affen"-Film aus dem Jahr 1968 hatte einen, der in die Geschichte einging. Tim Burtons Version von 2001 hatte einen, den der gesamte Planet der Menschen blöd fand. Und Pierre Boulles Roman "La Planète des singes" aus dem Jahr 1963, auf dem beide Filme mehr oder weniger lose basieren ... der hatte gleich zwei: Einen, der dem von Burton ähnelt (mit dem entscheidenden Unterschied, dass er im Roman Sinn ergibt). Unmittelbar gefolgt von einem zweiten, noch besseren. Der ist nur leider kaum verfilmbar.

Nachdem ein Beitrag in Heynes "Science Fiction Jahr" ausschließlich dem cineastischen Teil des Affen-Franchises gewidmet war, bietet es sich vielleicht an, darauf hinzuweisen, dass auch auf dem Buchmarkt einiges los war. Zu verdanken ist dies dem Comic-Verlag Cross Cult, der uns 2014 das große Rundum-glücklich-Primatenpaket schnürte. Mit dabei auch ein Neuausgabe von Boulles satirischem Originalroman, den man alleine schon deshalb lesen sollte, um ihn mit den Filmen vergleichen zu können. Hier trägt Affe noch Hut!

Die Zwischengeschichte

"Feuersturm", der andere nicht-graphische Titel, ist das Prequel zum Sequel des Prequels, also handlungsmäßig zwischen "Rise ..." und "Dawn of the Planet of the Apes" im rebooteten "Affen"-Universum angesiedelt. Zur Erinnerung: Caesar hat sich gerade mit seiner - etwas unwahrscheinlich großen - Horde aus Labor- und Zooaffen in die Mammutbaumwälder nahe San Francisco zurückgezogen. Währenddessen beginnt sich draußen in der Welt die gentechnisch veränderte Grippevariante auszubreiten, die den größten Teil der Menschheit dahinraffen wird.

Als Autor hat das Franchise Greg Keyes verpflichtet, der zuvor schon unter anderem "Star Wars"- und "Babylon 5"-Romane verfasst hat, also über entsprechende Erfahrung verfügt. In der Anfangszeit der Rundschau war er hier mit seiner opulenten "Bund der Alchemisten"-Tetralogie vertreten. Man konnte also zumindest eine solide Leistung erwarten, und genau das bekommt man mit "Feuersturm" auch: einen klassischen Pandemie-Thriller, der durchaus für sich allein stehen könnte.

Das Verhängnis nimmt seinen Lauf

Der Roman beginnt mit einem netten Gag: nämlich einem Bigfoot-Sucher, der im Wald plötzlich viel mehr haarige Zweibeiner vors Objektiv bekommt, als er sich das jemals erträumt hätte. Danach wird es aber sofort ernster. Die Handlung folgt im Wesentlichen zwei Strängen: Der erste dreht sich um die Primatologin Clancy Stoppard und den Ex-Söldner Malakai Youmans, die einen bewaffneten Trupp in die Wälder begleiten. Ihr Auftrag, die geflohenen Affen wieder einzufangen, wird jedoch ein ums andere Mal durch Caesars strategisches Geschick zunichtegemacht.

Im Mittelpunkt von Handlungsstrang 2 steht die Ärztin Talia Korsar, die hilflos mitansehen muss, wie sich die tödliche Seuche immer weiter ausbreitet. Wie gesagt: "Feuersturm" ist ein Pandemie-Thriller, was auch bedeutet, dass man sein Herz nicht zu sehr an die menschlichen Hauptfiguren hängen sollte - sonst wird man am Schluss wohl zur Packung mit den Taschentüchern greifen müssen. Wir wissen ja, wie das alles enden wird. Immerhin: Mit Ex-Polizeichef Dreyfus (=Gary Oldman) spielt jemand mit, von dem wir wissen, dass er überleben wird. Will Rodman (James Franco) taucht übrigens nur kurz in einem Flashback auf; sein genaues Schicksal sollte offenbar vorerst nicht angetastet werden.

Apropos Flashbacks: Keyes reiht die Gegenwartshandlung entlang einiger Rückblickskapitel auf, in denen das qualvolle Leben eines als Versuchstier missbrauchten Menschenaffen geschildert wird - gewissermaßen als soziologisches Unterfutter für die spätere Revolution. Interessanterweise wählte er dafür Koba - ist mir in den Filmen gar nicht bewusst geworden, dass der mörderische Psychopath ein Bonobo sein soll! Das nenne ich mal wider das Klischee gecastet. Kobas Leidensgeschichte weckt durchaus Verständnis für den Finsterling. Und was Caesar anbelangt: Der ist mir viel sympathischer, wenn ich nicht dauernd den heutzutage anscheinend unentrinnbaren Andy Serkis vor mir sehen muss. Alles in allem: gar nicht so schlecht.

--> Zu den "Chroniken von Mak"

Coverfotos: Cross Cult

Es werde Bild!

Die beiden nicht-graphischen Titel sind aber nur die Begleitmusik für das eigentliche Hauptprodukt, womit wir wieder beim Kerngeschäft von Cross Cult wären: "Die Chroniken von Mak" ist die gebundene Zusammenfassung einer Comic-Serie des kalifornischen Verlags Boom! Studios, der sich die "Planet der Affen"-Rechte gesichert hat und bislang sehr verantwortungsvoll damit umgeht. Der fette Edel-Ziegel umfasst 16 Episoden und einige Spezialausgaben, die insgesamt einen abgeschlossenen Handlungsbogen ergeben. Als Autor fungierte niemand Geringeres als Daryl Gregory, dessen großartige SF-Romane ("Pandemonium", "The Devil's Alphabet") leider immer noch nicht übersetzt worden sind. Skurril, dass er seine deutschsprachige Premiere mit einer Comic-Veröffentlichung erlebte.

Schon in den 70er Jahren gab es eine kurzlebige "Planet der Affen"-Comicreihe bei Marvel, die zum einen die Handlung der Filme nacherzählte, zum anderen aber auch neue Geschichten enthielt. Die waren umso interessanter, weil sie in einer Zeit zwischen unserer Gegenwart und dem Weltuntergang in Gestalt von Charlton Heston angesiedelt waren; einem mythischen Zeitalter, in dem Menschen und Affen noch annähernd gleich starke Antagonisten waren. Ohne Belastung durch irgendwelche "kanonischen" Filminhalte bot dies jede Menge Raum für erzählerischen Erfindungsreichtum - wenn jemand so ein Heft auf dem Flohmarkt findet: zugreifen!

Es war einmal in der Zukunft

"Die Chroniken von Mak" schlägt in dieselbe Kerbe. Handlungszeit ist das Jahr 2680, über ein Jahrtausend vor Heston. Und das ist nicht etwa zufällig gewählt: Es schließt damit nämlich unmittelbar an den letzten Teil der Original-Filmreihe an, an dessen Ende John Huston im Orang-Utan-Kostüm als der berühmte Gesetzgeber (hier übrigens durchgehend als Gesetzesvater bezeichnet) zu einer gemischt menschlich-äffischen Zuhörerschaft spricht. Der idyllischste Moment der ganzen Reihe ... das konnte ja nicht lange gutgehen.

Und tatsächlich beginnt Gregorys Geschichte damit, dass der Gesetzesvater ermordet wird; und zwar von einem Menschen. Der Konflikt zwischen der einen Spezies und den vier anderen, der nie weit unter der Oberfläche verschüttet war, bricht damit aufs Neue aus. Gregory spitzt ihn sogar auf eine persönliche Ebene zu und schildert ihn als Bruder- oder eigentlich Schwesterkrieg. Die Waisenmädchen Sullivan und Alaya wurden einst vom Gesetzesvater adoptiert und wuchsen im Stadtstaat Mak als Schwestern auf. Nun ist Sully die Anführerin der Menschen, während Alaya - so ungefähr sähe Prinzessin Amidala mit Schimpansen-Make-up aus - als Ratsherrin über deutlich mehr Macht verfügt. Und sie nimmt den Tod ihres "Großvaters" sehr persönlich.

Die Gewaltspirale dreht sich

Nicht dass die Situation im einzigen "gemischtrassigen" Stadtstaat Nordamerikas vor dem Attentat rosig gewesen wäre: Mak durchlebt gerade die Phase der beginnenden Industrialisierung - mit all den sich daraus ergebenden sozialen Spannungen. Und die Affen sitzen dabei stets am längeren Ast (no pun intended). Nun aber schlägt der Konflikt schnell in offene Gewalt um: Sabotageakte und Terroranschläge hier, zunehmende Repressalien dort. Es dauert nicht lange, da fahren dampfbetriebene Panzer auf, Gorillas schießen mit Schnellfeuergewehren aus Luftschiffen und Konzentrationslager werden eingerichtet.

Das Ende, in das die "Chroniken von Mak" münden werden, kann man daher nur folgerichtig nennen. Nicht umsonst heißt es an einer Stelle: "Fell ... Haut ... alles egal. Im Innern sind wir alle Bastarde." Daryl Gregory hat sich große Mühe gegeben, Licht und Schatten auf beiden Seiten gleich zu verteilen: Menschlichen Widerstandskämpfern wird eine blutige Vorgeschichte auf den Leib geschrieben, der brutale Gorillageneral Nix darf sich dafür auch von seiner besonnenen Seite zeigen ... alles recht ausgewogen. Alaya bleibt trotzdem ein Arschloch.

Die Ausführung

Dass Gregory die Handlung als komplexes Panorama mit einem vielköpfigen Ensemble konzipiert hat, zwang Zeichner Carlos Magno zu Szenenwechseln im Schnelltakt und führte zu hohem Tempo. Manchmal geht es fast zu schnell - andererseits passt es wieder zur Beschleunigung des Interspezies-Konflikts. Genauso, wie das Überwiegen von Braun- und Violetttönen gut zur Steampunk-Optik passt, in der die Welt von Mak gehalten ist. Nach den 16 ursprünglichen Bänden der Serie übernahm dann Diego Barreto den Zeichenstift von Magno. Hätte von mir aus nicht sein müssen, weil seine Illustrationen deutlich weniger detailreich sind, aber bitte.

Geschichtsbewusst und zitierwütig, wie Genrecomics nun mal sind, werden "Affen"-Fans hier jede Menge Anspielungen finden. Süß, wenn eine Handpuppenbühne "King Kong" als Entstehungsmythos einer Nation aufführt - und sehen hier zwei Affen nicht genauso aus wie Figuren aus dem Tim-Burton-Film?

Status des Franchises: Nicht gefährdet

Gregory versteht es zudem geschickt, teils widersprüchliche Elemente aus dem "Affen"-Franchise aufzugreifen und zu einem stimmigen Ganzen zu verbinden. Aus einer kurzen Anmerkung über eine Menschenstadt namens Delphi in irgendeinem der Original-Filme wird hier ein ganzer Handlungsbogen konstruiert, der die aktuellen Ereignisse in einen historischen Kontext rückt. Wir erfahren, wie es dazu kam, dass die Menschen in der fernen Zukunft nicht mehr sprechen können werden, und auch auf die Weltuntergangssekte der glatzköpfigen Psycho-Mutanten wird nicht vergessen. Am gelungensten finde ich allerdings, wie Gregory eine vollkommen stimmige Entstehungsgeschichte der berühmten, von Dr. Zaius zitierten, Worte des Gesetzgebers aus dem Ärmel schüttelt: "Nimm Dich in Acht vor dem Menschen, denn er ist des Teufels Verbündeter. Er allein unter Gottes Primaten tötet aus Sport, aus Lust oder Gier usw. usf." Das ist Retroactive continuity at its best!

Alles in allem ist "Die Chroniken von Mak" ein tonnenschwerer und nicht gerade billiger Wälzer, der die Anschaffung aber auf jeden Fall wert ist. Nicht nur, aber natürlich vor allem für Fans von "Planet der Affen". Und im Februar bringt Cross Cult mit Gabriel Hardmans und Corinna Bechkos "Zeitenwende" schon den nächsten Band aus den "Affen"-Chroniken von Boom! Studios heraus: selber Planet, anderes Zeitalter, neuer Handlungsbogen. Heyne hat sich derweil übrigens "Alien" angelacht. Mal sehen, wer im Wettlauf der Franchises am Ende die Schnauze vorne haben wird.

Illustrationen: Boom! Studios/Cross Cult

Lauren Beukes: "Zoo City"

Broschiert, 365 Seiten, € 15,50, Rowohlt Polaris 2014 (Original: "Zoo City", 2010)

Mit "Zoo City" ist der südafrikanischen Autorin Lauren Beukes ein Kunststück gelungen: Nämlich einen Roman zu schreiben, der zwar eigentlich Urban Fantasy ist, sich aber wie Science Fiction anfühlt. So sehr offenbar, dass sich unter den diversen Preisen, die "Zoo City" eingeheimst hat, auch der Arthur C. Clarke Award befindet - und der ist doch rein der SF gewidmet. Ein bisschen mag mitgewirkt haben, dass alle noch Beukes' - ebenfalls in Südafrika angesiedeltes - Erstlingswerk "Moxyland" von 2008 im Hinterkopf hatten, das unter Cyberpunk fiel. Doch hat Beukes das Cyberpunk-Feeling voll auf diesen ihren zweiten Roman übertragen.

Nach dem raffiniert konstruierten Zeitreisekrimi "Shining Girls", den ich bei dieser Gelegenheit auch noch einmal ausdrücklich als Teil der Jahresrundschau nennen möchte, ist "Zoo City" nun bereits der zweite Beukes-Roman, den Rowohlt herausgebracht hat. Und mit dem geht es mitten ins Genre: Kein unerklärlicher Einzelfall in einer ansonsten vertrauten Welt macht hier die Handlung aus, hier kommt ein ausgebautes fantastisches Setting ins Spiel.

Die Romanwelt

Genau genommen handelt es sich bei "Zoo City" um die Fantasy-Variante einer Alternativweltgeschichte. Von der unseren ist die Romanwelt nämlich bereits in den 1980ern abgebogen, als die ersten Aposymbionten bzw. Getierten auftauchten; flapsig auch als "Zoos" bezeichnet. Dabei handelt es sich um Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, und denen eine besondere Form von Buße auferlegt oder vielleicht auch eine zweite Chance zuteil geworden ist (ob vom Universum, einem Gott oder sonst irgendeinem übernatürlichen Faktor, weiß niemand).

Jeder Betroffene verfügt in seinem zweiten Leben über eine besondere psychische bzw. magische Gabe. Und schleppt zudem als sichtbares Zeichen seines geächteten Status ein Tier mit sich herum, das wie aus dem Nichts neben ihm materialisiert ist und ihn fortan wie ein klassischer familiar begleitet. Mit diesen - zumindest teilweise intelligenten - Tieren verbindet die Zoos eine tiefe seelische Beziehung. Sie geht so weit, dass ein Zoo den Tod seines Tiers nur kurz überleben würde: Denn dann holt ihn das dunkle Gewalle des Sogs von der Welt. Das darf man sich ziemlich genauso vorstellen wie die Szene, in der Patrick Swayzes Widersacher in "Ghost" in die Hölle gezogen wird.

Zinzi setzt sich auf die Spur

Als zumindest nominelle Hauptfigur des Romans fungiert Zinzi December, eine ehemalige Journalistin, die den Drogen verfiel und Schuld am Tod ihres Bruders trägt. In ihrem neuen Leben als Zoo lebt sie in einem Gettodistrikt von Johannesburg mit einem Faultier namens "Faultier" als Begleiter. "Ich glaub, hier war ich schon mal. Ganz unten", fasst sie einmal die aktuelle Situation und ihr Leben zusammen. Mit galligem Humor und kleinkriminellen Gelegenheitsjobs hält sie sich mehr schlecht als recht über Wasser - etwa indem sie Scam-Mails verschickt und als "armes Flüchtlingsmädchen" auftritt, wenn ihr Ex-Dealer mal wieder naive Wohltäter aus dem Ausland angelockt hat. Aber irgendwie muss sie ja ihre Drogenschulden abstottern.

Zinzis magische Gabe ist es, die Verbindungen zwischen Menschen und Gegenständen, die diese verloren haben, wahrzunehmen. Das spült zwar auch nicht viel Geld in die Kassa - doch ein neuer Job könnte das ändern: Die weibliche Hälfte eines erfolgreichen Teenie-Pop-Duos ist verschwunden und Zinzi nimmt den Auftrag an, das Mädchen zu suchen. Das führt zu einer kurvenreichen Handlung, über die die "Washington Post" nicht zu Unrecht schrieb: Man hat das Gefühl, die Autorin wusste nicht so recht, wie sie die Geschichte enden lassen soll, also hat sie die Macheten ausgepackt. Aber letzten Endes kommt doch alles noch irgendwie zusammen.

Der eigentliche Star

Wenn ich vorher von der "nominellen Hauptfigur" gesprochen habe, dann liegt dies daran, dass Zinzi zwar formal im Mittelpunkt steht und auch als Ich-Erzählerin fungiert. Der eigentliche Star des Romans ist aber Zoo City selbst, die ins Fantastische verschobene Variante des Johannesburger Stadtteils Hillbrow. Beukes beschreibt, aufbauend auf eigenen Erfahrungen, eine multikulturelle und von sozialen Spannungen gezeichnete Welt, die überaus lebendig wirkt: Ein wunderbares Beispiel für den seit einigen Jahren anhaltenden Trend, Phantastik von der "Peripherie" zu schildern; siehe auch Ian McDonald, Geoff Ryman, Paolo Bacigalupi oder Nnedi Okorafor.

Reichtum und Elend liegen hier nur einen Steinwurf voneinander entfernt - und die Grenzen sind durchlässig. Das soziale Auf und Ab symbolisieren nicht nur Wolkenkratzer, die sich in einem ständigen Zyklus von Verwahrlosung und Re-Gentrifizierung zu befinden scheinen. Auch Zinzi selbst fungiert wie ein Fahrstuhl zwischen den Welten. Eben noch draußen in der Gated Community, wo ihr Kunde wohnt, pirscht sie anschließend durch die gefährlichen Straßen des Gettos, trifft ehemalige Journalistenkollegen im schicken Nachtclub und verkriecht sich zum Schlafen wieder in ihrem versifften Wohnsilo ohne Stromversorgung.

Beukes hat für ihre muntere und wortspielreiche Sprache (die sich zumindest zum Teil auch ins Deutsche herübergerettet hat) viel Lob bekommen. Verbunden mit dem exotisch und gleichzeitig doch so realistisch anmutenden Gesellschaftspanorama, das sie hier zeichnet, ergibt das einen wirklich lesenswerten Roman. Und Rowohlt hat offenbar Blut geleckt: Schon im Juni soll Beukes' jüngster Roman "Broken Monsters" auf Deutsch erscheinen.

Coverfoto: rororo

Claire North: "The First Fifteen Lives of Harry August"

Broschiert, 406 Seiten, Orbit 2014

Schriftstellerpseudonyme haben schon ihren Sinn. Dieses Buch wurde im englischsprachigen Raum von Anfang an gefeiert und ist auch in zahlreichen Jahresrückblicken vertreten, sodass man kaum dran vorbeizukommen glaubt. Und es verdient all das Lob tatsächlich! Aber ich hätte mir die Bestellung zweimal überlegt, wenn mir schon vorher aufgefallen wäre, dass sich hinter "Claire North" die britische Autorin Catherine Webb verbirgt. Von der hatte ich vor ein paar Jahren mal den zeitgenössischen Fantasyroman "Lucifer" gelesen: Eh nett, die Götter in einer Familiengeschichte versammelt zu sehen, mit Jahwe in der Rolle des Stinkstiefels. Aber nachhaltigen Eindruck hat der Roman bei mir keinen hinterlassen. Das ist hier zum Glück anders.

Die Ausgangsidee

In "The First Fifteen Lives of Harry August" haben wir es mit Menschen zu tun (sie nennen sich selbst manchmal die Kalachakra), die nach ihrem Tod wiedergeboren werden - am gleichen Tag und im gleichen Körper wie beim ersten Mal. Sie bewegen sich also durch eine jahrzehntelange Zeitschleife, allerdings eine mit Variationen. Denn im Wesentlichen bleibt der Ablauf der Historie der gleiche, doch er lässt sich beeinflussen.

Zudem können sich die Kalachakra an ihre früheren Leben erinnern. Und das eröffnet faszinierende Möglichkeiten: Die Unsterblichen können nicht nur versteckte Botschaften an ihre Artverwandten in der Zukunft hinterlassen, die Kommunikation funktioniert auch andersherum. Wenn ein wiedergeborenes Kind einen greisen Unsterblichen seiner Zeit kontaktiert, kann es ihn bitten, nach seinem Tod eine Botschaft in die eigene Kindheit mitzunehmen. Und immer so weiter - ein Kettenbrief durch die Jahrhunderte. Auf diese Weise erreicht die Titelfigur Harry August zu Beginn des Romans die Nachricht aus der Zukunft, dass sich der Weltuntergang beschleunigt hat. Man müsse etwas tun.

Die Hauptfigur

Harry wird in der Neujahrsnacht 1918/19 im Norden Englands geboren und kurz danach adoptiert: Ein Umstand, der ihm später wichtigen Schutz bieten wird, denn Unsterbliche tun gut daran, ihre Herkunft geheim zu halten. In der Folge macht er die typische Entwicklung eines Kalachakra durch: Nach seiner ersten, für ihn noch völlig überraschenden Wiedergeburt verfällt er bald dem Wahnsinn und begeht Selbstmord. In seinem dritten Leben sucht er vergeblich in Religionen nach Antworten (keine Angst, ist nur ein kurzer Streifzug). In seinem vierten gerät er erstmals an Normalsterbliche, die seine Fähigkeiten skrupellos ausnutzen wollen. Aber er übersteht auch das und entwickelt allmählich die notwendige Routine, um sich Gefahren zu entziehen. Dass er Kontakt zu erfahreneren Kalachakra knüpft, die ihn unter ihre Fittiche nehmen, hilft dabei immens.

Die im Cronus Club lose vernetzten Kalachakra darf man sich nicht als illuminierten Geheimbund vorstellen, der aus dem Verborgenen die Geschicke der Welt lenkt. Im Gegenteil. Sie halten sich bewusst aus allem heraus, denn aus früheren Erfahrungen weiß man, wie gefährlich es sein kann, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen. "Complexity should be your excuse for inaction" lautet das Motto des Cronus Club - eine temporale Variante der Obersten Direktive, wie wir sie aus vielen Zeitreiseromanen kennen.

Dolce Vita vs. Ernst der Leben

Man nutzt die eigenen Möglichkeiten lediglich dazu, Mit-Kalachakra in deren schwierigen ersten Inkarnationen zu unterstützen und sich ansonsten ein schönes Leben zu gönnen: Je nach Laune betreibt man Privatforschungen oder experimentiert mit Drogen, sucht nach Zeitkapseln oder gestaltet selber welche (wie Harrys Mentorin, die der Nachwelt aus Jux ein schwer verschlüsseltes Rezept für Zitronensorbet hinterlässt). Einmal trifft Harry auf einen Söldner, der Kriege als Freizeitsport betrachtet: "Kuwait's a good 'un, and I've tried the Balkan shit too, though again that's all so much 'Kill the civilian, kill the civilian, run from the tank!' and I'm like, Jesus guys, I'm a fucking professional, do you have to give me this shit?" Was übrigens kurz darauf von ernsthaften Gedanken über die Sinnlosigkeit von Kriegen an sich gefolgt wird, so etwas streut die Autorin immer wieder geschickt, weil unaufdringlich ein.

Natürlich drängen sich grundlegende Fragen geradezu auf, wenn die Handlung von Figuren getragen wird, die das Leben beinahe aus der Vogelperspektive betrachten können. Wiedergutmachung ist ein wiederkehrendes Thema im Roman (etwa in Harrys Verhältnis zu seinem biologischen Vater), oder auch Verantwortung: So begegnet Harry einmal einem Serienmörder und tötet diesen daraufhin in allen weiteren Leben, bevor er seine Taten begehen kann; mitleidlos und so routinemäßig wie Zähneputzen. Und unter allem schwelt die existenzielle Frage, die jeden Unsterblichen - natürlich stellvertretend für jeden Menschen überhaupt - umtreibt: Bin ich letztlich der einzige auf der Welt, der zählt?

Spannung, Sprache, Raffinesse

Wenn sich Harry ab seinem zwölften Leben auf die Spur desjenigen begibt, der den Weltuntergang herbeiführen wird, ist es mit dem Dolce Vita sowieso vorbei, für Harry wie für den ganzen Cronus Club. Es folgen Serienmorde, Spionage-Action und ein raffiniertes Katz-und-Maus-Spiel zwischen Harry und seinem Widersacher (God, but he lied beautifully; it was a masterclass. If I hadn't been concentrating so hard on my own deceit, I would have stood up and applauded.). Auch als Spannungsroman spielt "The First Fifteen Lives of Harry August" alle Stückeln.

Trotz drohenden Weltuntergangs und eines daran beteiligten "Quantenspiegels" ist dies übrigens kein SF-Roman; es wird ja auch nie eine Erklärung versucht, wie die Wiedergeburten zustandekommen. Witzigerweise scheint sich eher die Struktur der Erzählung als die Handlung an der Physik zu orientieren. Kapitel mit Vor- und Rückblicken oszillieren um den Hauptstrang des Geschehens und machen das "Jetzt" zu einer so flüchtigen Größe wie dem Aufenthaltsort eines Elektrons in einem Atomorbital (ist aber trotzdem einfach zu lesen!). Und so, wie sich die Kalachakra zyklisch durch ihre jeweiligen Lebensspannen bewegen, gleichzeitig jedoch eine darüber hinausreichende Linearität erleben - das hat mich unwillkürlich an die "aufgerollten Extradimensionen" der Branen- und Stringtheorie erinnert.

Womit wir beim letzten Kaufargument wären: der Sprache. Sehr schön. Nicht nur, dass die Hauptfigur und einige ihrer Weggefährten Briten sind und wunderbares Understatement pflegen. Die ganze Erzählung wird - selbst in Folterszenen! - von einem gelassenen Ton getragen. Gespeist aus der inneren Distanz, die jemand, der schon alles erlebt hat, zwangsläufig entwickelt - glaubwürdig ist dieser Stil also obendrein. Wie sagt Harrys Mentorin doch einmal? "One obtains a kind of neutrality after a while." Nicht jedoch gegenüber diesem Buch - ich fand es großartig.

Coverfoto: Orbit

Ben H. Winters: "Countdown City" & "World of Trouble" ("The Last Policeman" 2 & 3)

Broschiert, jeweils 319 Seiten, Quirk Books 2013/2014

It remains hard to fathom, hard to believe, that this is what the world has become. That this, of all possible worlds and times in which I could have been born, could have been a policeman, that this is the world and time that I got. Dieses kurze Staunen ist auch schon das Höchstmaß an Selbstmitleid, zu dem sich Hank Palace, der Titelheld in Ben H. Winters' Trilogie vom "Letzten Polizisten", hinreißen lässt - ansonsten bleibt Hank ein Musterbeispiel an Selbstdisziplin. Dabei hätte er allen Grund auszuflippen: Wird doch, wie im Auftaktband "Der letzte Polizist" beschrieben, in Kürze ein Asteroid von der Größe des Dinosaurierkillers auf die Erde prallen und alles höhere Leben auslöschen. Die Zivilisation zerfällt - aber Hank macht weiter seinen Job.

Es geht bergab

Winters fügt sich in den aktuellen Trend - siehe etwa Will McIntosh oder Darin Bradley -, uns nicht ansatzlos in die ewiggleichen postapokalyptischen Landschaften zu beamen, sondern den Prozess des Unter- bzw. Niedergangs zu beschreiben, während er noch abläuft. In Hanks Heimatstädtchen Concord geschieht dies zumindest im ersten Teil sogar noch recht zivilisiert - diverse Selbstmorde und Fälle von Vandalismus einmal ausgenommen. Die wirklich schrecklichen Dinge - etwa Bombardierungen von Flüchtlingsströmen - ereignen sich weit entfernt und bilden bloß eine Art Hintergrundrauschen in den Nachrichten (solange es noch welche gibt).

In Teil 2, "Countdown City", wird Hank erstmals selbst Zeuge eines Massakers, das schon deutlich näher an Concord stattfindet - und auch in der Stadt selbst geht es mit den bürgerlichen Tugenden den Bach runter. Im abschließenden "World of Trouble", wenn Hank zu seiner letzten Ermittlung aufbricht, bewegt er sich dann schon durch ein klassisch anmutendes Apokalypse-Szenario. Während seiner Überlandfahrt teilt er die Städte auf seinem Weg nach einem Farbkodierungssystem ein: Rot für Orte offener Gewalt, Blau für solche, an denen man noch den Anschein wahrt, es wäre alles normal, und so weiter.

Der unvergleichliche Hank Palace

Mit Ausnahme vielleicht von Andy Weirs Mark Watney war mir 2014 keine Romanfigur so sympathisch wie Hank Palace. Hank ist genauso methodisch und umsichtig wie Weirs "Marsianer" ... aber ganz anders. Zugeknöpft. Ein bisschen steif. Manchmal habe ich mich echt gefragt, ob er er an einer leichten Variante von Asperger leidet.

Womit beschreibt man ihn am besten? Damit, dass er den Hund eines Ganoven adoptiert hat? Dass er als Kind freiwillig den Fernseher abschaltete, wenn die erlaubte halbe Stunde vorbei war? Dass er allen Ernstes noch "Holy moly" sagt? Dass er unbeirrt ermittlungsrelevante Informationen in seinem Notizbüchlein festhält, während rings um ihn die Welt im Chaos versinkt? Oder dass er den Fall eines kleinen Jungen, der sein Spielzeugschwert verloren hat, genauso auf seine To-do-Liste setzt wie einen Mord?

Es ist ein Kunststück des Autors, dass man Hank trotz seines oft komisch wirkenden Festhaltens an Standardprozeduren für vielleicht ein bisschen neurotisch hält, er einem aber nie unheimlich wird. Da er nach einer Umstrukturierung nicht mehr offiziell im Dienst steht und die Polizei sich ohnehin vor allem um sich selbst zu kümmern scheint, gäbe es keinen Grund für Hank, immer noch Verbrechen aufklären zu wollen - Bezahlung nimmt er auch keine an. Er wird oft gefragt, warum er das tut, und kann stets nur antworten: "Ich weiß es nicht." Spätestens im dritten Teil, wenn Hank dann doch einmal ausrastet, begreifen wir aber, dass es dieses Festhalten an gewohnten Strukturen und Abläufen ist, das ihn angesichts des nahenden Endes nicht den Verstand verlieren lässt.

Die letzten Fälle

In "Countdown City", das 77 Tage vor dem prognostizierten Asteroideneinschlag einsetzt, begibt sich Hank auf die Suche nach einem verschwundenen Ehemann - eigentlich ein völlig hoffnungsloses Unterfangen vor dem Hintergrund, dass sich Menschen längst zu Millionen auf Nimmerwiedersehen verabschieden, sei es in den Tod oder zu einem letzten Abenteuer vor dem Weltuntergang. In "World of Trouble" schließlich, angesiedelt in der letzten Woche vor dem Ende, versucht Hank seine Schwester Nico zu finden und stolpert dabei einmal mehr über einen Mordfall.

Apropos Nico: Von Hanks freigeistiger Schwester - so ziemlich sein charakterliches Gegenteil - wissen wir seit Band 1, dass sie Kontakt zu einer Gruppe hat, die dem Glauben anhängt, der Asteroid sei noch ablenkbar, doch werde dieses Wissen von der Regierung unterdrückt. Bloße Verschwörungstheorie oder steckt mehr dahinter? Diese Frage wird in Band 2 und 3 immer relevanter: für Hank, aber auch für uns LeserInnen. Man ist hin- und hergerissen, ob der Autor nun konsequent bleiben oder doch noch das Happy End finden soll, das wir den Figuren so sehr gönnen würden (das aber dann vielleicht unglaubwürdig und kitschig rüberkäme). Wer die Antwort wissen will, wird wohl zur Originalausgabe greifen müssen: Auf meine Rückfrage beim Verlag hin sah es nicht danach aus, als ob eine Übersetzung von Band 2 und 3 anstünde.

Absolut lesenswert

Behind Martha on the wall is a flat-screen TV, a flat cold rectangle, and I am struck by the object's profound uselessness, a receiver for an extinct species of signal, a reminder of all that is already dead, a tombstone hung on the wall. Winters' Trilogie ist für ihre traurige Schönheit gelobt worden, die in den vielen kleinen Alltagsdetails zum Tragen kommt, in denen sich der Untergangsprozess ausdrückt - etwa wenn Menschen am Speaker's Corner Schlange stehen, um nacheinander unter Applaus hinauszurufen, was sie an der Welt vermissen werden. Aber die Bücher sind immer wieder auch überraschend komisch. Dazu trägt Hanks eigenbrötlerisches Verhalten ebenso bei wie der Umstand an sich, dass wir es hier trotz anstehender Apokalypse immer noch mit Krimis zu tun haben. Ganz klassischen sogar, inklusive überraschender Twists und Tätersuche bis fast zur letzten Seite.

Passt das denn überhaupt zusammen? Nun, das läuft letztlich auf die Grundfrage hinaus, die Winters uns allen stellt: Soll man angesichts des bevorstehenden Endes weitermachen wie bisher oder gibt es einen Punkt, ab dem alles egal ist? Ab dem man alle bisherigen Regeln sausen lassen kann, weil die Schuld nicht bei einem selbst liegt? Hank hat darauf eine klare Antwort, und für die mag ich ihn: "The asteroid is not making anyone do anything. It's just a big piece of rock floating through space. Anything anyone does remains their own decision."

Coverfoto: Quirk Books

George R. R. Martin: "Armageddon Rock"

Broschiert, 391 Seiten, € 17,40, Golkonda 2014 (Original: "The Armageddon Rag", 1983)

Im Dezember noch schnell ein super Buch raushauen und damit den ganzen Plan für den Jahresrückblick durcheinanderbringen, das hamma scho gfressen! Andererseits hat mir das eine Ausrede auf dem Silbertablett serviert, jetzt nicht Peter Watts' "Echopraxia" lesen zu müssen (also das plus der Umstand, dass die deutschsprachige Ausgabe eh schon im Sommer erscheint). Ich hatte einfach grad keine Lust, mich von Watts' beeindruckenden, aber bitterkalten Visionen deprimieren zu lassen. Kommt dann im Juli!

Das Buch, das Martin sehr am Herzen lag

... nicht dass George R. R. Martin frei von Zynismus wäre, mind you. Aber seiner ist im Vergleich zu Watts doch von der herzerwärmenden Sorte - und in diesem Klassiker geht es genaugenommen sogar um den Kampf gegen Zynismus, so idealistisch war Martin selten. Eines noch vorneweg: Für die Rezension habe ich meine Taschenbuchausgabe aus den 80ern gelesen (angesichts meiner vollgestopften Regale nutze ich jede Möglichkeit, ein weiteres Buch nicht dazuzuquetschen). Die Neuausgabe bei Golkonda ist allerdings eh eine überarbeitete Version der damaligen Heyne-Übersetzung. Und das alte Taschenbuch mag zwar weniger liebevoll gestaltet sein, aber dafür kann es - neben einem voll danebenen Cover - mit dem Foto eines knapp 40-jährigen George R. R. Martin mit Zylinderhut punkten, das sieht man auch nicht alle Tage!

Anmerkung für Genrepuristen: Sieht man von ein paar beunruhigenden Träumen und Visionen der Hauptfigur Sandy Blair ab, tauchen erst im letzten Drittel des Romans einige Elemente auf, die eine Zuordnung zu Fantasy oder Horror ermöglichen würden - und selbst die könnte man mit einiger Beharrlichkeit vielleicht noch wegrationalisieren. Was aber nicht heißen soll, dass "Armageddon Rock" nicht - gewissermaßen - in ein Genre fallen würde: So nahe ist Martin dem großen amerikanischen Roman nie wieder gekommen.

Die Handlung

Sandy ist ein Schriftsteller und ehemaliger Musikjournalist in New York, der aus der Gegenkultur der 60er Jahre stammt. Doch inzwischen schreiben wir die frühen 80er. Mit seinem kommerziell gewordenen Ex-Magazin "Hedgehog" hat Sandy sich längst überworfen - ein Mordfall lässt ihn nun wieder journalistisch aktiv werden. Ein Musik-Promoter und Manager aus der Hippie-Ära ist mit allen Anzeichen eines Ritualmords abgeschlachtet worden (ausgerechnet nahe Bangor, Maine ... da hat Stephen King wohl schlechte Vibrations rübergeschickt).

Das Opfer managte einst die Nazgûl, eine legendäre Rockband, die sich Anfang der 70er auflöste, nachdem ihr Sänger auf offener Bühne erschossen worden war (und deren Name den ganzen Roman hindurch für diverse Tolkien-Verweise sorgt). Sandy macht sich auf die Suche nach den übrigen Bandmitgliedern ... und ich habe mich unwillkürlich gefragt, ob Martins Roman Todd Haynes zu seinem Film "Velvet Goldmine" inspiriert hat. Hier wie dort läutete ein Bühnentod das Ende einer musikkulturellen Ära ein, hier wie dort rückt die Befragung von Zeitzeugen die Bandgeschichte immer wieder in ein neues Licht. Doch hat Martin mit seiner wesentlich düstereren Geschichte quasi das Altamont zu Haynes' Woodstock geschrieben.

The Second Coming

Sandy trifft aber nicht nur auf die überlebenden Nazgûl, sondern auch auf ehemalige WeggefährtInnen aus seiner Studentenzeit: damals, als Amerika in Aufruhr war. Maggie, Lark, Froggy, Bambi und Slum, sie alle haben unterschiedliche Wege eingeschlagen. Ehemalige Revolutionäre sind nun Mitglieder der Handelskammer oder Sachbearbeiter in der Werbung, haben sich in abgelegene Kommunen zurückgezogen oder leben im Prekariat. Einer wurde sogar von seinem Fascho-Vater für unzurechnungsfähig erklärt und unter Hausarrest gestellt. Mit zunehmender Wehmut konstatiert Sandy, wie sich das einstige Movement und sein Traum von einer besseren Welt in Staub aufgelöst haben.

Doch hat es den Anschein, als würde das Mem der Auflehnung in die amerikanische Gesellschaft zurückkehren. Und es sieht ganz danach aus, als würde die vom geheimnisvollen Edan Morse und seiner ebenso verführerischen wie schlagkräftigen Assistentin Ananda vorangetriebene Reunion der Nazgûl damit in direktem Zusammenhang stehen. Erst sieht Sandy in einem beunruhigenden Tagtraum noch einmal die blutigen Ereignisse vom Demokraten-Parteitag 1968, als die Chicagoer Polizei brutal eine friedliche Demonstration niederknüppelte: ein Schlüsselereignis der damaligen Ära. Danach werden Sandys Träume apokalyptisch - und parallel dazu häufen sich auch in der realen Welt die Gewalttaten.

Von der Murder Mystery über das Gesellschaftspanorama zur Fantasy: Der mit Songzitaten und extensiven Konzertbeschreibungen gespickte Roman ändert mehrmals sein Gesicht und folgt doch einer geradlinigen Bahn, das ist schon bemerkenswert. Und er trägt nicht umsonst das Wort "Armageddon" im Titel. Doch wenn die Nazgûl wieder fliegen und sich die Kräfte von Gut und Böse zur sprichwörtlichen letzten Schlacht sammeln, wird Sandy vor der allesentscheidenden Frage stehen: "Welche Seite sind wir?"

Generationenfrage

Als Hymnus oder Abgesang auf eine gesellschaftliche Bewegung, die für einen Augenblick in der Geschichte alles zu verändern schien, kann "Armageddon Rock" beeindrucken und bleibt zeitlos wirkmächtig. Was die Glorifizierung des dazugehörigen Soundtracks anbelangt ... nun ja. Es war ein wichtiger Abschnitt der Musikgeschichte, aber nicht der letzte.

Auf der Suche nach Alternativen zum mehrfach im Roman kritisierten Kommerzgedudel hätte Musikexperte Sandy auch abseits seiner alten Plattensammlung fündig werden können. Mal sehen: Lydia Lunch war damals gerade in einer ihrer wilderen Phasen - oder wie wär's mit Jello Biafra und den Dead Kennedys? Oder mit Afrika Bambaata? Die musikalische Gegenkultur blühte und brannte zur Romanzeit an allen Ecken und Enden, so kreativ und gesellschaftspolitisch engagiert wie eh und je. Da muss man sich nicht nur an die "Goldene Ära" des Rock klammern; ist halt eine Geschmacks- bzw. Generationenfrage. Davon abgesehen aber ist "Armageddon Rock" eine wahre Pracht.

Und so geht es weiter

Februar ist Berlinale- und damit Urlaubszeit. Falls die nordkoreanischen Drohungen gegen das Filmfestival (auf dem "The Interview" skurrilerweise nicht einmal läuft) nicht in die Tat umgesetzt werden, kehre ich im März unbeschadet mit der nächsten Rundschau wieder. Liegen eh schon wieder zehn Bücher herum, das hört einfach nicht auf! (Josefson, derStandard.at, 24. 1. 2015)

Coverfoto: Golkonda