George R. R. Martin: "Traumlieder 3"
Broschiert, 825 Seiten, € 15,50, Heyne 2015 (Original: "Dreamsongs Volume 3", 2003)
Der Mann kann einfach erzählen! Das merkt man selbst an diesem Band, der immerhin der dritte und letzte in der RRetrospective "Traumlieder" ist. Mit anderen Worten: Das ist der Rest vom Schützenfest. Im Original erschien George R. R. Martins Storysammlung "Dreamsongs" 2003 als Kontinentalplatte von einem Buch. Auf Deutsch wurde sie in drei Bände aufgeteilt, von denen allerdings immer noch jeder überdurchschnittlich voluminös ist. Da es sich um lauter Wiederveröffentlichungen handelt und ich die meisten Geschichten schon kannte, habe ich mir die ersten beiden gespart und beschränke mich nun auf den Schluss.
Das TV-Zeitalter vor "Game of Thrones"
Auch dieser Band ist wieder in thematische Abschnitte gegliedert, eingeleitet jeweils von kurzen Essays, in denen Martin spannende Einblicke in sein Leben und seine Arbeit als Schriftsteller gibt. Auch in sein wechselvolles und oft glückloses Arbeiten für Hollywood: Denn schon lange vor "Game of Thrones" schrieb Martin Vorlagen und sogar Drehbücher für TV-Serien – tatsächlich gesendete wie "Die Schöne und das Biest" oder die wenig erfolgreiche Neuauflage der "Twilight Zone", aber auch diverse Projekte, die dann eingestampft wurden.
Wer das Essay "Der Sirenengesang Hollywoods" gelesen hat, kann verstehen, warum Martin heute seine TV- und Roman-Tätigkeitsfelder so weit wie möglich voneinander trennt und zum Beispiel auf seinem Blog sämtliche Kommentare zu "Game of Thrones" konsequent löscht. Als Erzählungen, wenn man so will, sind dem Essay zwei Drehbücher angefügt, eines zur "Twilight Zone"-Folge "Merkwürdiger Besuch" sowie der Pilot zur schubladisierten Serie "Doorways", in der es einige Jahre vor "Sliders" um das Wechseln zwischen Parallelwelten ging. Beziehungsweise gegangen wäre. Es handelt sich dabei übrigens wirklich um Drehbücher, nicht um Adaptionen in Form von Kurzgeschichten. Kurz: Das ist wirklich nur was für eingefleischte Martin-Fans.
Superhelden wider Willen
Der zweite Abschnitt dreht sich um das Projekt, das Martin in den 80er und frühen 90er Jahren parallel zu seiner Arbeit für Hollywood auf Trab hielt, das von ihm dirigierte Shared Universe der "Wild Cards". Das Setting ist eine alternative Version der Erde, in der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ein Virus freigesetzt wurde, das Infizierten Superkräfte verlieh. Diejenigen, die dabei körperlich unversehrt blieben, heißen nun Asse. Die, bei denen sich auch das Äußere bizarr veränderte, sind die Joker. In den beiden hier enthaltenen Erzählungen, von denen eine gut und eine weniger gut ausgesucht ist, fokussiert Martin auf die als Freaks diskriminierten Joker, die in einem New Yorker Ghetto leben.
"Aus dem Tagebuch des Xavier Desmond" schildert eine desillusionierende diplomatische Weltreise einer Gruppe Joker, Asse und Normalos quer durch die Krisenherde der 80er Jahre – unter ihnen der krebskranke Titelheld, ein Joker und Bürgerrechtsaktivist. Martin wählte die Geschichte aus, weil er sie für eine der besten aus dem "Wild Cards"-Universum hält, was allerdings nur zur Hälfte stimmt. Nachvollziehbar (und insofern auch ein echtes Leseerlebnis) ist sie nur vom Feeling her, weniger vom Inhalt. Der leidet nämlich – typisch für Superhelden-Universen in der Comic-Branche – unter einem Übermaß an Querverweisen zu früher veröffentlichten Werken.
Die andere Erzählung kommt zum Glück mit weniger Kontext und Vorgeschichte aus. In "Taschenspielertricks" wird ein neuer Superheld geboren, als sich der junge Tom einen Panzer baut, den er mit seinen telekinetischen Kräften schweben lassen kann, um fortan als der Große und Mächtige Turtle durch die Lüfte zu fliegen. Und er reaktiviert einen kaputten Comic-Helden seiner Kindheit, den Außerirdischen Doktor Tachyon, der wegen Schuldgefühlen im Suff gelandet ist. Nicht umsonst sind die "Wild Cards" in derselben Ära entstanden wie die "Watchmen" und andere Vertreter der damals neuen, zynischen Variante des Superhelden-Genres. Handlungszeit ist, durchaus symbolisch, die Zeit nach Kennedys Ermordung – also "als Amerika seine Unschuld verlor", wie gerne gesagt wird.
Im Herzen des Genres
Im dritten Abschnitt, eingeleitet vom Essay "Das Herz im Widerstreit", demonstriert Martin dann seine volle Bandbreite, von Science Fiction über Alternate History, Horror und Magic Realism bis zu Fantasy. Im Original war hier auch "Der Heckenritter von Westeros" enthalten (womit der derzeit natürlich unvermeidliche "Game of Thrones"-Verweis am Buchcover gerechtfertigt wäre). Das ging aber wohl aus rechtlichen Gründen nicht, immerhin ist der "Heckenritter" vor Kurzem erst bei Penhaligon auf Deutsch erschienen.
Als "Ersatz" ist die Rede angefügt, die Martin bei der SF-Worldcon von 2003 hielt und in der er sehr ausführlich auf seine Kindheit eingeht ... naja. Wieder eher was für Hardcore-Fans; ich schätze, dass sein Publikum damals schon sehnsüchtig aufs Buffet geschielt hat. Das Essay "Das Herz im Widerstreit" hingegen ist hervorragend. Martin fasst darin seine Gedanken über Genregrenzen und Ideologiestreitigkeiten (aus einer Zeit lange vor der dummdreisten Kampagne der Sad Puppies) zusammen und kommt zum Schluss, dass letztlich nur die Ausstattung bestimme, in welches Genre eine Geschichte fällt, im Mittelpunkt aber immer der Mensch stünde.
Die 1.000 Facetten des GRRM
Ohne den "Heckenritter" sind immer noch fünf höchst unterschiedliche Novellen und Novelletten geblieben, düster, humorvoll, spannend, gruselig oder einfach nur schön. Zum düsteren Auftakt setzt es "Belagert", in dem ein schwer entstellter Mutant aus einer Zukunft nach dem Atomkrieg seinen Geist in die Vergangenheit projiziert, um die Geschichte in eine bessere Bahn zu lenken. Sein – für Alternate-History-Erzählungen durchaus originell gewähltes – Ziel ist das Jahr 1808, in dem Schweden die Festung Sveaborg und damit Finnland ans russische Reich abtrat. Das gilt es zu verhindern, um den Aufstieg Russlands (und damit der späteren Sowjetunion) zu verhindern – allerdings funkt wieder einmal der menschliche Faktor dazwischen.
Wie alle Geschichten hier ist auch diese schon einmal auf Deutsch erschienen: Und zwar in der wegweisenden Alternativwelten-Anthologie "Hiroshima soll leben!" von 1993, die ich sehr empfehle. Seinerzeit musste ich noch zu einer Enzyklopädie greifen, um den Schluss von "Belagert" zu verstehen – in Zeiten von Wikipedia geht das natürlich einfacher.
Vollkommen anders die preisgekrönte Novelle "In der Haut des Wolfes": Willie Flambeaux ist der sympathischste Schuldeneintreiber, den die Welt je gesehen hat. Und er ist ein Werwolf. Zusammen mit der Detektivin Randi Wade bildet er ein Ermittlerduo, wie es seitdem in der Urban Fantasy derart oft kopiert worden ist, dass man es schon als modernen Archetyp betrachten kann. Hier ergibt die Mischung einen spannenden Noir-Krimi mit witzigen Dialogen und Horror-Einschlag, der beinahe der Beginn einer Serie geworden wäre.
Reduktion tut gut
"Die Glasblume", in dem die Unsterbliche Cyrene im Seelenspiel gegen den Cyborg Kleronomas antritt, gehört zu Martins äußerst loser Future History "Thousand Worlds" – wie beispielsweise auch die berühmten Geschichten um den "Planetenwanderer" Haviland Tuf. Allerdings sind diese "Tausend Welten" so unterschiedlich, dass die einzelnen Geschichten weder inhaltlich noch stilistisch eine Einheit bilden. Für mich ist die fantasyeske – oder besser gesagt märchenhafte – "Glasblume", die zu sehr in ihrer Ausstattung schwelgt, die schwächste der fünf hier enthaltenen Erzählungen.
Dann doch lieber das raffinierte Kammerspiel "Aussichtslose Varianten" – nicht umsonst merkt eine der Figuren an, dass sie sich vorkomme wie in einem Stück von Harold Pinter. Ein Millionär zitiert ehemalige Studienfreunde, mit denen er einst ein Schachteam gebildet hatte, in sein abgelegenes Domizil. Dort eröffnet er ihnen nonchalant, dass er eine Technologie für Zeitreisen entwickelt ... und mit dieser ihrer aller Leben ruiniert hat, weil er sich für eine erlittene Schmach rächen wollte. Es kommt zu einem großen Schach-Showdown, sowohl auf dem Brett als auch außerhalb.
Ebenfalls reduziert, ebenfalls wunderbar geschrieben und ebenfalls preisgekrönt die letzte Geschichte: In "Bilder seiner Kinder" erhält der alternde Schriftsteller Richard Cantling eine Reihe von Porträts, die seine Tochter gemalt hat, nachdem die beiden einen erbitterten Streit hatten. Sie wirft ihm Missbrauch vor, weil er ihr Leben so wie das aller anderen Menschen in seinem Umfeld als Szenarien für seine Romane verwertet hat. Deshalb schickt sie ihm nun Bilder seiner "wahren" Kinder – nämlich seiner Romanfiguren. Und die erwachen zum Leben. Eine sehr gelungene Geschichte, die offen lässt, ob sie wirklich zur Phantastik gehört oder ob sich alles nur in Richards Kopf abspielt. Und sie endet völlig anders, als man glaubt.
Resümee
Obwohl ich anfangs von Restlverwertung gesprochen habe (und wer könnte es Verlagen zurzeit verdenken, wenn sie sich auf alles greifbare Martin-Material stürzen?), ist hier immer noch ausreichend gute Lektüre enthalten. Und die beiden vorangegangenen "Traumlieder"-Bände, die unter anderem Kracher wie die "Sandkönige" oder Tuf-Geschichten enthalten, sind sogar noch besser. Martin lesen lohnt eben.